Europa, ein Blick zurück

Wie werden die Kinder unserer Kinder Europa sehen? Aylin Basaran wagt einen musealen Blick zurück auf die „Festung Europa“. Die Zeitgeschichtlerin im Interview.

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Die Festung Europa ist Realität. Die Europäische Union schirmt sich gegen Zuwanderung aus anderen Teilen der Welt ab. Wie wird denn die „Festung Europa“ in die Geschichtsbücher eingehen, so es 2030 oder 2050 noch Geschichtsbücher gibt?

Das hängt ganz davon ab, wie sich die Weltgeschichte bis dahin entwickeln wird, da die Art der Geschichtsschreibung ja immer von jeweils gegenwärtigen Interessen und daraus resultierenden Sichtweisen bestimmt ist. Das heißt, dass es an den Menschen von heute liegt, für welche Gesellschaft sie durch ihr Handeln die Grundlage schaffen. Ich möchte hier ein wenig utopisch denken. Vieles, was uns heute als absurdes Unrecht aus der Vergangenheit erscheint – das System der Sklaverei, die Leibeigenschaft, der Ausschluss von Frauen vom Wahlrecht – galt zu seiner Zeit als unumstößliche Selbstverständlichkeit.

Ebenso glaube ich, dass vieles, was heute selbstverständlich oder eben undenkbar erscheint, in einigen Jahren in einem ganz anderen Licht erscheinen wird. Denken wir zum Beispiel an ein Recht auf globale Bewegungsfreiheit. Vielleicht erscheint die Praxis, Menschen institutionell daran zu hindern, sich von einen Ort des Erdballs an den anderen zu bewegen, irgendwann so befremdlich wie für uns heute die Vorstellung, dass ein Mensch einen anderen ‚besitzen‘ konnte…

Was genau hat dich auf die Idee gebracht, dir in einem Ausstellungsprojekt den Blick aus der Zukunft zurück auf heutige reale Zustände in Europa auszumalen?

Die Arbeitsgruppe innerhalb der „Wienwoche“, bei der ich mitwirke hat ja den Namen „Geschichte neu schreiben“. In einem emanzipatorischen Sinne sollte Geschichte verstanden werden als Prozess der Veränderung. Dies sollte den Blick auf die aktive Aushandlung von Gegenwart im Spannungsverhältnis von Interessen und Gesellschaftsstrukturen, innerhalb derer Subjekte handelnd eingreifen, beinhalten. Eine solche Sichtweise von Geschichte beinhaltet auch, gesellschaftliche Verhältnisse nicht als gegeben hinzunehmen, sondern ins hier und heute gestalterisch einzugreifen, Geschichte als Empowerment zu begreifen.

Ermöglicht der Blick aus der Zukunft einen sachlicheren Zugang und größere Distanz zum Thema?

Größere Distanz ja. Das ist auch ein wichtiger Aspekt der Ausstellung, einen Schritt zurück von dem zu treten, was uns als alltäglich, selbstverständlich und unveränderlich erscheint. „Sachlichkeit“ ist vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck. Es geht mehr darum, festzustellen, dass Geschichtsschreibung – und das gilt auch für die Darstellung der Gegenwart, eben als ‘zukünftige Geschichte’ – immer eine Frage der Perspektive ist, und die dominante Perspektive hat viel zu tun mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen aber auch einem Unvermögen zur Selbstreflexion.

Es wäre vermessen, den Anspruch zu haben, dass die Ausstellung zeigt, ‘wie es wirklich ist’, schließlich sind wir alle nur Kinder unserer Zeit und auch in Vorannahmen verstrickt, die uns gar nicht auffallen, die aber vielleicht später einmal absurd wirken. Aber zu einer reflexiveren und reflektierteren Sicht auf unsere Welt kann sie vielleicht beitragen.

Gibt es für diesen Kunstgriff des fiktiven Blicks zurück Vorbilder oder andere ähnliche Aktionen, die deinem „Museum Festung Europa“ vorangegangen sind?

Aus dem Ausstellungsbetrieb ist mir im Moment kein derartiges Beispiel bekannt. Allerdings ist der Blick zurück aus der fiktiven Zukunft auf die jeweilige Gegenwart ein beliebtes Motiv zahlreicher Science-Fiction-Filme und Romane. Das populäre Kino ist voll von solchen Motiven. Ein Freund, der an dem Projekt mitarbeitet, hat mir übrigens erzählt, dass er früher mal in der Schule im Rahmen des Kunstunterrichts eine „archäologische“ Ausstellung mit „Ausgrabungen“ von Alltagsgegenständen, die in einer fernen Zukunft ausgestellt werden, mitgestaltet hat.


Du arbeitest als Assistentin am Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien. Verfolgt „Museum Festung Europa“ einen wissenschaftlichen Ansatz oder handelt es sich eher um ein Kunstprojekt?

Ich möchte keine absolute Trennlinie zwischen Wissenschaft und Kunst ziehen, da beides letztlich eine Abstraktionsleistung des Menschen beschreibt, sich ein Bild von seiner Umwelt zu machen. Gewiss steht bei der Wissenschaft der analytische Blick im Vordergrund und bei der Kunst die Darstellung oder Repräsentation dessen, was da erdacht, durch Denkleistung hervorgebracht wurde.

Es gibt ja Theorien in der Wissenschaft, die sagen dass die Art und Weise wie Forschungsergebnisse (meist schriftlich) wiedergegeben werden, diese zugleich verfälschen oder zumindest ‚färben‘. Gleichzeitig baut künstlerische Produktion darauf auf, dass zuvor ein genaues, auch analytisches Nachdenken über den Gegenstand stattgefunden hat. Für mich ergänzt sich also beides.

Es ist eher ungewöhnlich, dass sich Historiker auf Gedankenexperimente einlassen. Wie sieht man denn dein Engagement in Wissenschaftskreisen?

Innerhalb des Instituts für Zeitgeschichte arbeite ich am Schwerpunkt Visuelle Zeit- und Kulturgeschichte, bei dem es darum geht, zu sehen wie gesellschaftsgeschichtliche Themen sich in der visuellen Kultur niederschlagen und auch umgekehrt, kulturell-künstlerische Tendenzen zu gesellschaftspolitischen Fragen Stellung beziehen und diese beeinflussen.

Ein zeitgeschichtlicher Ansatz bezieht eben ganz vielschichtige Dimensionen gesellschaftlicher Realitäten mit ein um sich ein Bild von einer bestimmten Epoche zu machen.

Welcher Quellen bedient sich denn die Ausstellung?

Zu Themen, die unter dem Begriff Festung Europa subsumiert werden können, gibt es eine Vielzahl an wissenschaftlicher Literatur sowie eine Menge journalistischer und aktivistischer Recherchen. Die ‚historischen‘ Quellen, die in der Ausstellung konkret sichtbar gemacht werden, sind Dokumente aus der Jetzt-Zeit, wie Medienberichte, ‚Zeitzeugenzitate‘, Bildmaterial, sowie amtliche Dokumente des Migrations- und Grenzregimes und Alltagsgegenstände, die symbolisch für die Festung stehen können. Darüber hinaus werden sich die Historiker der Zukunft auch Gedanken darüber machen, wie die komplexe Situation des Heute veranschaulicht visualisiert werden könnte. Dies macht einen weiteren Teil aus.

Ich erinnere mich an „Fortress Europe“, einen Song der Asian Dub Foundation aus dem Jahr 2003. Von wem stammt denn das Bild vom Kontinent als „Festung“ ursprünglich?

Soweit ich weiß wurde der Ausdruck erstmals als Schlagwort von den Nazis verwendet um die Abschottung des faschistisch besetzten Europa gegen die Alliierten, insbesondere England zu propagieren. Seitdem hat der Begriff eine Neukontextualisierung erfahren. Seit den 90er Jahren ist „Fortress Europe“/ “Festung Europa“ ein fest stehender Begriff in antirassistischen Bewegungen. Aus deren Sicht wird der Begriff zur kritischen Abgrenzung, Demaskierung und Verurteilung gegen das Europäische Grenzregime, das Prinzip der Abschottung gegen Migranten und Flüchtlinge gebraucht. Damit soll auch zum Ausdruck gebracht werden, dass seitens der herrschenden Politik, die der unkontrollierten Migration regelrecht den Krieg erklärt hat, das vermeintliche Gefahrenpotential nicht mehr in ‚feindlichen Armeen‘ gesehen wird sondern in menschlichen Subjekten, die sich innerhalb ihrer Heimat – dem Erdball – frei bewegen wollen.


2006 hat die Journalistin Corinna Milborn in einem Buchtitel das Bild recht reißerisch weitergedacht: „Gestürmte Festung Europa“. Wie wird denn dieser „Sturm“ in deinem Museumsprojekt thematisiert?

Der „Sturm“ findet ja bereits längst statt, jedes Jahr versuchen tausende Menschen nach Europa zu kommen. Die Maßnahmen, die die Festung ergreift sind ja eine Reaktion darauf. Denke an die von der EU-Grenzschutzagentur Frontex koordinierte Jagd auf Migranten im Mittelmeer und an den EU-Ostgrenzen, an die Detention Center in Italien, Ungarn oder Griechenland oder an die täglichen Abschiebungen aus Österreich. Und trotz all der Maßnahmen, die an den hoch militarisierten Grenzen getroffen werden, plus der Repression innerhalb der Festung wie auch der Abschreckungsversuche in den Herkunftsländern, gelingt es immer Menschen nach Europa zu kommen und auch Fuss zu fassen.

Vielerorts in Europa begehren Migranten und Flüchtlinge dagegen auf, ausgegrenzt, eingesperrt und abgeschoben zu werden. All das spricht dafür, dass Menschen langfristig nicht davon abgehalten werden können, hier zu sein. Diese Tendenz hat viel mit den Widersprüchen zu tun, die Europa durch die Verteidigung seiner Privilegien selbst hervorbringt. Die gesamte westliche Welt, allen voran Europa, baut ihren relativen Reichtum nach wie vor auf der politischen und wirtschaftlichen Dominanz und Ausbeutung ärmerer Länder auf. Eine Folge davon ist, dass sich viele Menschen nicht nur aus Kriegsregionen, sondern auch aus Gebieten mit extremer Armut auf den Weg machen, um anderswo eine Lebensperspektive zu finden.

In einem Teil der Ausstellung wird es um Motivationen und Strategien des „Eindringens“ und des Dableibens gehen, um migrantische Kämpfe.

In vielen Heimatmuseen finden sich übersichtliche, kleinformatige Replika von Burgen und Schlössern, in denen Schlachten nachgestellt und Belagerungssituationen veranschaulicht werden. Wird es solche Installationen auch geben?

Das Bild der Festung dient vor allem dazu, heutige Abschottungspraktiken zu demaskieren und als anachronistisch darzustellen. Dazu soll auf historische Ausstellungen dieser Art angespielt werden. Es werden aber auch Brüche zu diesem Bild deutlich gemacht, um klar zu machen, dass eben die – womöglich tief historisch wurzelnde – Abschottungsmentalität heute oft subtiler funktioniert. Würde man Flüchtlinge beispielsweise im Stil einer angreifenden Armee darstellen würde man nur propagandistische Bilder reproduzieren die von Rechten heute benutzt werden um Angst zu schüren und der Festung eine Legitimation zusprechen. Nein, die Festung ist nicht so wörtlich zu verstehen, sie ist eher ein Bild für eine Art Geisteshaltung oder politischen Willen mit dazugehörigen Praktiken, die es zu demaskeiren und ad absurdum zu führen gilt.

Gibt es die „Festung Europa“ auch als physisches Exponat?

Es wird grafische Darstellungen auf den Ausstellungstafeln geben, die das Bild der Festung aufgreifen. Physische Exponate werden in alltäglichen Gegenständen bestehen, also ‚archäologischen Funden‘ aus der Festung, die durch die Kontextualisierung eine neue Bedeutung enthalten und so befremden sollen.


Laut Ankündigung sollen auch Alltag und Leben innerhalb der Festung gezeigt werden. Was erwartet uns da konkret?

Dabei geht’s um Aspekte, die das Sozialgefüge, das Miteinander betreffen, Probleme von denen wir tagtäglich in den Nachrichten mitbekommen. Von Arbeitsmarktfragen, rechtlichen Hierarchisierungen und Ausschlüssen, Behördenpraktiken, Leben in Flüchtlingslagern bis hin zu Zwischenmenschlichem, Verhaltensweisen zwischen Solidarität und Denunziation. Im Mittelpunkt stehen sowohl die Belange der langansässigen Festungsbewohner als auch die der von außerhalb Hinzugekommenen.

Damit die Menschen der Zukunft dazu angeregt werden nicht nur Daten und Fakten zu lernen wird es aber auch um Fragen der Ideologie gehen, die das Fundament von Misstrauen, Missgunst und Desolidarisierung und Ausschluss war. „Othering“ – also das Zuschreiben von allem was Angst verursacht zu einem immaginierten Kollektiv – wird als Form der Weltanschauung analysiert werden.

Umfasst dein Gedankenexperiment auch museumsdidaktische Aspekte, wird Wissen und Kontext auch über futuristische Medien oder besonders fortschrittliche Formate vermittelt werden?

Der didaktische Faden besteht darin mit Zeitlichkeitsbezügen zu spielen. Da die Medien sich so schnell entwickeln, überschreitet es meine Phantasie was in 50 Jahren denkbar ist. Wenn ich dahingehend experimentieren würde, würde das wieder mehr über meine Utopien von der Zukunft aussagen. Das wäre eine andere Ausstellung, denn das Thema von „Museum Festung Europa“ ist ja das Jetzt. Wie schon gesagt muss die Zukunftsperspektive natürlich mitgedacht werden, aber das soll eher den Besuchern überlassen werden. Die Ästhetik spielt an das an, was wir heute mit historischen Ausstellungen in Verbindung bringen. Denn im Vordergrund steht das Experiment, Zeitgenossen dazu zu bringen, das Heute aus einer historischen Perspektive zu sehen.

Zum Abschluss noch zwei Einschätzungen: Wie wird sich denn Europa für unsere Nachgeborenen darstellen? Was kommt nach der „Festung“?

Nun muss ich doch utopisch werden. Die Ausstellung spielt und experimentiert mit eben dieser Gratwanderung, über die Darstellung der Geschichte gewisse Hoffnungen im Hinblick auf die Zukunft zu implizieren ohne diese aber explizit benennen zu müssen – weil der Gegenstand der Ausstellung ja eben die Vergangenheit ist. Das Implizieren funktioniert darüber, dass Dinge natürlich erst aus einer Perspektive hinterfragt werden können, wo sich einiges an den gesellschaftlichen Verhältnissen und damit auch im Bewusstsein der Menschen verändert haben wird.

Was genau das sein könnte bleibt der Phantasie der Besucher überlassen. Und über das Nachdenken darüber eröffnet sich natürlich die Perspektive auf die Frage: Wie leben wir heute und wie können wir heute handeln, damit Dinge sich ändern. Eben weil Geschichte jederzeit geschieht. Was die Ausstellung indirekt darzustellen vermag ist also die Zukunft eher als ein Experimentierfeld, eine Spielwiese oder eine Baustelle.

Was meinst du, wird es eine Ausstellung wie „Museum Festung Europa“ in ferner Zukunft wirklich geben?

Mit Sicherheit werden sich zukünftige Historiker Gedanken über unser Heute machen. Und mit Sicherheit werden sie versuchen ihren Zeitgenossen etwas über diese Zeit zu vermitteln. Sollte es so sein, dass die Welt einmal nicht mehr so sehr nach Ausschlussprinzipien und Abgrenzungsbestrebungen aufgebaut ist – eine Version, die ich mit der Umsetzung von „Museum Festung Europa“ versuche nahezulegen, werden Historiker alte Papiere in die Hand bekommen und sich wundern, dass ein Mensch mit dem Status ‚geduldet‘ betitelt werden konnte. Und vielleicht werden sie anhand der Überlegungen dazu befremdet zu rekonstruieren versuchen wie das Leben heute gewesen sein muss und sich – ein wenig pathetisch – fragen: „Wie konnte es sein, dass so viele eine solche Logik unhinterfragt mittragen konnten.“

Das „Museum Festung Europa“ von Aylin Basaran ist im Rahmen der „Wienwoche“ (21 September bis 7. Oktober) im Österreichischen Museum für Völkerkunde zu Gast. www.wienwoche.org

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