Wir müssen immer weiter durchbrechen

Millionenschwer, Millionen Fans, Millionen Ideen: Richie Hawtin ist DJ, Musiker, Labelbetreiber und revolutionärer Techno-Weiterdenker auf musikalischer, technischer und musikwirtschaftlicher Ebene. Gerade entwickelt er neue Wege mit den Maschinen zu interagieren, iPhone- und Twitter-Apps natürlich inklusive.

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Richie Hawtin spuckt wie ein Vulkan – nicht beim Sprechen, sondern Ideen aus. Als der Kanadier Mitte der 90er wegen Visum-Problemen nicht mehr in die USA einreisen durfte, setzte er kurzerhand seine Vision einer aufs Wesentliche reduzierten, manchmal schwer experimentellen elektronischen Musik um und lieferte die Blaupause für jene Art von Minimal Techno, für die er heutzutage weltweit bekannt ist, ja in seiner eigenen Liga spielt. Hawtins Visuals-Konzepte krempeln seit jeher das Gesicht von Techno gewaltig um. Sein Alter-Ego Plastikman samt legendärem Logo wurde zu einem Wahrzeichen des Techno-Hypes in den 90ern. Ohne ihn hätten Final Scratch und sämtliche Vinyl-MP3-Interfaces nie den globalen Siegenzug angetreten. Dem nicht genug, ist Richie Hawtin Mitinitiator der weltweit größten Downloadplattform für elektronische Musik: Beatport. Er hebt seit Jahren das klassische DJ-Setup aus den Angeln und hat am laufenden Band Ideen, wie man Musik noch weiter pushen kann – technisch, ästhetisch und sozial. Das Haus Hawtin ist Techno-Futurismus. Aber mal von vorne weg. Wie kommt ein junger Kanadier überhaupt dazu, zuerst den Detroiter Technotraum zu leben und dann als Weltstar eine ganze Musikkultur derart mitzuprägen?

Detroit

Richie Hawtin wurde 1970 im englischen Oxfordshire geboren, seine Eltern ziehen im Jahre 1979 nach Windsor in Ontario, Kanada, weil sein Vater dort für General Motors arbeitet. Eine prägende Weichenstellung, liegt Windsor doch direkt an der Grenze zu den USA, gegenüber von Detroit, um genau zu sein. Angeregt durch die Technik-Begeisterung des Vaters und vor allem dessen Kraftwerk- und Pink Floyd-Platten stürzt sich der Computer-Freak früh ins pulsierende Musikleben von Detroit. Dort entdeckt er Jeff Mills und mit ihm Techno. Im Kopf des Jugendlichen macht es klick und kurz darauf nur mehr boom boom boom boom. Mit siebzehn hat er eine Residency in einem kleinen Club. In den folgenden Jahren lernt er John Acquaviva kennen, gründet mit ihm das Label Plus 8. Seine Partys führen dazu, dass sich immer mehr weiße Vorstadt-Kids für Techno begeistern.

Hawtin war zu diesem Zeitpunkt eigentlich eine umstrittene Figur in der überwiegend schwarzen Kernszene von Detroit, weil er andere Möglichkeiten hatte als die schwarzen Partyveranstalter, DJs und Producer. Nichtsdestotrotz wurde Richie eine bedeutende Identifikationsfigur für die weißen Kids und so auch einer der wichtigsten Wegbereiter für den globalen Siegeszug von Techno. Neben seinen legendären Cybersonik-, Plastikman-, F.U.S.E.– und Richie Hawtin-Hits und richtig guter Labelarbeit mit Plus 8 und später M_nus, machte ihn sein vor allem sein unbändiger Vorwärtsdrang zu einem einzigartigen Künstler.

The Pusherman

Hawtin war immer schon ein Computer- oder besser gesagt Tech-Nerd. Als erster Plattendreher weltweit verwendete er das digitale Vinyl-DJ-System Final Scratch und verhalf ihm zum Durchbruch. Auch hier wurde schnell die konservative Vinyl-Kulturkritik laut. Doch an Traditionalismus ist Hawtin rein gar nicht interessiert. Beim einstündigen Telefon-Interview ist Hawtin gerade in Detroit, jener Stadt mit soviel Techno-Geschichte wie keine zweite auf dieser Erde, der er so viel zu verdanken hat und über die er sagt, dass sie zwar geschrumpft sei, aber dort heute wieder viel Inspiration und Optimismus spürbar wäre. Die Frage, ob er dem legendären Turntable von Technics 1210 nachtrauert, stellt sich im Gespräch nicht einmal im Ansatz. Hawtin trauert ja noch nicht einmal Final Scratch nach, einer Idee, die er selbst enorm vorangebracht hat, aber heute nur noch als Brückentechnologie sieht. Mit Turntables digitale Files zu kontrollieren, war, sagt er, damals futuristisch, aber gleichzeitig auch ein sehr rückwärts gerichteter Gedanke. Sein Ziel war es, digitale Files zu verwenden, aber jetzt, wo das erreicht ist, muss die Reise weiter gehen.

Derzeit arbeitet er an Multitouch und dem ganzen Drumherum. Dabei geht es ihm aber mehr darum, die fortgeschrittene Technik endlich dafür zu nutzen, dass der Laptop wieder zur Seite rücken kann, dass das Logo am Rechner nicht mehr zwischen DJ und Publikum steht. Das bedeutet wohlgemerkt keinen Schritt zurück, sondern zwei Schritte vorwärts. Die ganze Technik ist noch immer da, soll aber unsichtbarer werden und das, was wir als Menschen tun und erschaffen, ins Scheinwerferlicht rücken. Deshalb experimentiert Hawtin wieder einmal damit, wie der Mensch digitale Daten ansteuern kann. »Interfacing« ist ein Wort, das im Lauf des Interviews sehr oft fällt. Hawtin geht es um die richtigen, um intuitive Zugriffsmöglichkeiten auf die digitale Welt. Im einfachsten Fall bedeutet ein Mensch-Computer-Interface, mit einer Maus auf ein Feld zu klicken oder eine Taste auf der Tastatur zu drücken. Ein Pionier wie Hawtin dagegen steuert seinen Laptop derzeit mit zwei iPads als Filebrowser an, kombiniert das mit physischen Fadern und Effektwegen und hängt verschiedene Controller für weitere Funktionen an. Im Labor experimentiert Hawtin außerdem mit dem Kinect-System der Xbox. Das System übersetzt Bewegungen auf einem Kamerabild in Steuerbefehle für die Spielkonsole. Wenn nun aber die Bewegungen des Körpers und der Hände in Signale für eine DJ-Software verwandelt werden, so bedeutet das für Hawtin eine neue Option, aber noch keine zwingende. Denn wer will schon drei Stunden auf der Bühne herum hampeln müssen? Eine Software »Kinect-DJ by Hawtin« wäre zwar schnell machbar, doch manche Funktionen lassen sich leichter anders ansteuern. Ein 3D-Videostream aus mehreren Kinect-Kameras … das klingt schon eher nach Hawtins Geschmack.

Individuelle Lösungen für individuelle Performances, das ist das Feld, auf dem Richie Hawtin gerade forscht. Wie kann man als DJ mit Hacking und Circuit Bending, mit den Innereien der aktuellen Unterhaltungselektronik, für sich die besten Ergebnisse erzielen. »Denn wenn der DJ heute unzählige Devices hat und auf der Bühne gleichzeitig alles das macht, was normalerweise eine Band macht, dann wäre es doch schön, ein eigenes Interface für die Drums, ein anderes für den Bass und noch ein weiteres für die Melodie zu haben. Ich glaube, das macht Sinn.« Und Hawtin glaubt das nicht nur, er hat schon 2001 mit seinem Album »DE9: Closer To The Edit« an der Auflösung von Tracks gearbeitet, als er ein Album nur aus mikroskopischen Samples zusammensetzte und so auch mal nebenbei den klassischen Werkbegriff zerlegt hat. Auch heute arbeitet er am nächsten Format, an der Zukunft.

Der DJ im Jahr 2015

»DJing wird noch granularer werden. Es schwirren derzeit Gespräche und Spezifikationen über neue Fileformate herum, die dir einen ganzen Track an die Hand geben, aber dir erlauben, in den Track hineinzugehen, während du ihn spielst. Diese Files sind nicht nur Stereo, sondern Stereo mit allen Einzelspuren. Aber kann man live einen Turntable benutzen, um so einen Track auseinanderzunehmen? Nein. Also braucht es neue Wege, um an das anzukoppeln, um das zu bearbeiten. Bald schon wird es neue Software und neue Fileformate geben, die uns vollen Zugriff auf jeden Song, den wir spielen, geben werden. Dadurch haben wir dann viel mehr Freiheit im kreativen Prozess.«

Praktischerweise hat Richie Hawtin mit Beatport die einzige Plattform zu seiner Verfügung, die so ein Format zum Standard für die meisten DJs machen kann. Bekomm einen Dollar mehr für deinen Track, wenn du die Einzelspuren verkaufst, sei vorn dabei, schreib die Zukunft, entdecke die kreativen Möglichkeiten dieses neuen Formats. Das sind überzeugende Argumente.

Die Frage, woher dieser Drang kommt, mit 40 Jahren immer wieder nach neuen Grenzen zu suchen, wo doch viele seiner Freunde und DJ-Kollegen gut damit leben, jedes Wochenende ein paar Tracks in einem Club zu spielen, ist für Hawtin nicht leicht zu beantworten. Er sei in der Schule schon anders gewesen, und ja, neue Dinge auszuprobieren, neues Essen, neue Technologie oder was auch immer, das sei eine nützliche Energie die ihm hilft, vorwärts zu gehen. Hawtin hat zu viele Leute um sich herum gesehen, die sich keine Fragen mehr stellen, sich nicht mehr weiter entwickeln wollen, und wirklich alt werden. Er selbst sucht immer nach Dingen, die ihn inspirieren. Aber wie geht das, immer weitermachen? Hawtin zögert kurz: »Ich scheine eben diese Energie zu haben … ich liebe all diese Sachen, sie sind es, woran ich denke, wenn ich morgens aufwache, dabei fühle ich mich lebendig.«

M_nus Hawtin Community

Mittlerweile ist er bei Weitem nicht mehr der einzige DJ, der völlig ohne Turntables auflegt. Sein Grundgedanke war ursprünglich die Verschmelzung von Live-Act und DJ. Systeme wie etwa The Bridge, eine kürzlich erschienene Schnittstelle zwischen dem Live-und Studio-Programm Ableton und dem Digital DJ-Interface Serato Scratch, fußen quasi eins zu eins auf Hawtins Idee. Für seine Contakt-Shows 2008 wollte er mit anderen M_nus-Künstlern gemeinsam auf der Bühne agieren. Dafür musste ein System entwickelt werden, mit dem man den Sound von Live-Acts und DJs technisch aufeinander abstimmen konnte. So etwas gab es damals nicht. Hawtin entwickelte also mit befreundeten Technikern ein funktionierendes System. Er schaffte es so, die klassische Line-up-Situation aufzubrechen.

Die Contakt-Events überraschte dann noch mit Social Media. Das Publikum konnte vor Ort als auch von daheim aus mit den Artists auf der Bühne in Kontakt treten. Community, das sagt Hawtin, ist mit Musik und Technologie die dritte Säule seiner ganzen Arbeit. Services wie TwitterDJ sind für Hawtin weitere Wege, seine Ideen und Gefühle an sein Publikum zu transportieren, sich auszutauschen. Schon in den frühesten Plastikman-Tagen gab es einen Fanclub, um mit den Leuten in Verbindung zu bleiben, M_nus hat eine Membership Card, und dasselbe will Hawtin heute mit Social Media erreichen.

Elektronische Musik wird und muss sich also nach Richie Hawtin immer weiter vorwärts bewegen. Diesem Motto bleibt er auch mit 40 Jahren eisern treu. Er ist ein Avantgardist im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Plastikman Arkives 1993-2010 erscheinen in vier verschiedenen Paketen, von 90 digitalen Songs bis zu einer Box mit zwölf CDS und DVDs und sechs weiteren Vinyls. Das Set erscheint am 28. Februar, kann aber schon jetzt geordert werden.

www.plastikman.com/arkives

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