Der Geschmack von Rost und Hoffnung

Trip Hop-Elemente, Minimalismus und die Stimme einer Opernsängerin – reicht das wirklich, um eines der schönsten und intensivsten Alben des Jahres 2013 zu vollbringen? Für London Grammar ja.

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Es hat seine Gründe, dass Rost im Kulturbereich seit jeher ungleich beliebter war als bei den Ingenieuren. Er steht für die Endlichkeit von Eisen und Stahl – dafür, dass auch die massivsten Denkmäler letztlich ein Ablaufdatum haben. Auch Pop ist stets eine Momentaufnahme, die ihre Schönheit dadurch gewinnt, dass sie morgen Vergangenheit ist. Pop bedingt Vergänglichkeit. London Grammar singen gerne von dieser Vergänglichkeit. Davon, wie die Sicherheiten, die man sich temporär im Leben aufbaut, zu Staub zerfallen: »When your house begins to rust, it’s just metal and dust«.

Ja, natürlich erinnert »If You Wait« an vielen Ecken und Enden an The XX. Mit ihnen teilt sich das Trio aus Nottingham die Liebe zum Minimalismus. Wobei dieser meist nur zu Beginn eines Songs herrscht: Cleane, aufgelöste Gitarrenriffs, sparsames Piano, eine Melodie, die völlig vom vibratolastigen Gesang Hannah Reids getragen wird. Das Ganze baut sich dann langsam auf, bis irgendwann später der Rest der Instrumentierung einsetzt und der Sound opulent wird. Viele Songs von London Grammar ähneln klassischen Kompositionen. Die Band ist das Orchester, und Reid unbestreitbar die erste Geige. Ohne ihr kraftvolles Organ würden die Songs kaum funktionieren. Das hier ist Power, das Gegenteil von »elfenhaft« (einem absoluten No-Go-Wort, wenn es um weibliche Sängerinnen geht). Gewisse Ähnlichkeiten mit Florence Welch sind da natürlich nicht abzustreiten. Auch wenn Reid es gelegentlich tut.

Auffällig sind neben der Ambient-Stimmung auch die Anleihen an Trip Hop – eine Musikrichtung, die bis auf die unvermeidlichen Tricky und Massive Attack von Produzenten nur mit spitzen Fingern angefasst wurde. Wenn überhaupt. Trip Hop war tot, doch Totgesagte leben länger: In letzter Zeit glaubte man immer öfter »Unfinished Sympathy«, DEN Hit des Jahres 1991 (22 Jahre ist das jetzt schon her!), zu hören. Nur um dann zu merken, dass es gar nicht der Track ist. Die Jagd auf das Vermächtnis des Trip Hop hat begonnen, und es beteiligen sich wieder einige daran. Man muss sich nur mal die letzte Moderat-Platte anhören.

Wunderbar intensiv, kraftvoll still

Auf »If You Wait« geht es um Momente. Reid schreibt ihre sehr persönlichen Songs über Menschen, die in ihr Leben kommen und es auch wieder verlassen. Um diese gemeinsame Strecke des Weges, ob sie kurz oder lang, quälend oder euphorisierend ist. Die Kombination aus Intensität, Kraft, aber auch immer wieder Momente der Stille machen das Album so wunderbar wie es ist. London Grammar können auch Kavinskys »Nightcall« so covern, dass es zu Tränen rührt. Sie tun das auf der Platte übrigens auch.

Begonnen hat alles in Nottingham, wo sich die drei auf der Universität kennenlernten. Man begann in örtlichen Bars Coverversionen zum Besten zu geben. Robyn, Florence & The Machine – was man halt so spielt, wenn man eine Frau am Mikro hat. Überhaupt ist es sehr auffällig, wie heuer wieder Bands mit weiblichem Gesang durchstarten. Haim, Daughter, Chvrches, Aluna George oder eben auch London Grammar. Die fünf ersten Plätze im Sound of 2013 der BBC wurden mit Sängerinnen besetzt. Man kann darüber streiten, ob das aus feministischer Sicht erfreulich ist – die Kombination »männliche Band mit Frontfrau« steht immerhin für alles, was Grrl Riot! bekämpft hat. Auffällig ist es allemal.

Die Ähnlichkeit des Albumtitels zu Daughters »If You Leave« ist sicher so zufällig wie passend. Auch bei London Grammar gabeln sich die Wege, gehen die Menschen und hinterlassen Leere. Doch es bleibt immer Hoffnung. Wenn man wartet, kommen die Dinge vielleicht wieder. Auch wenn es manchmal 22 Jahre dauert.

»If You Wait« von London Grammar erscheint am 6. September via Metal and Dust Recordings.

Bild(er) © Minstery of Sound
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