A Different Kind Of Family

Rabih Beaini produziert exotische Talente, die ansonsten vielleicht kaum Gehör fänden. Dieses Jahr ist er Co-Kurator der CTM und spricht mit uns über Musik und die Welt.

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Am Montag späten nachmittags sitzen wir im Rix, dem Café im Haus des Neuköllner Konzertsaals Heimathafen, in dem in wenigen Stunden der libanesische Star-Sänger Abdel Karim Shaar mit seiner Band spielen wird, im Rahmen des CTM Festivals. In quasi Wiener Kaffeehaus-Atmosphäre reden wir bei einem hier sog. Americano über Weltmusik 2.0. Es geht etwa um eine respektvolle Sampling-Kultur und darum, dass sich wohl auch ein 80-jähriger Wüstenbewohner über einen Remix seiner Musik freuen würde. Beaini meint, um Artgenossen zu finden, sei es für Musiker spezieller Stile oft ertragreicher, sich global als lokal umzuschauen.

Rabih Beaini ist ein leidenschaftlicher Label-Betreiber, Kurator, Musiker, Dirigent, DJ und Digger. Und er ist auch ein reflexiver Kopf. Dennoch mag er es nicht, Dinge übermäßig zu reflektieren oder zu zerreden. Er habe „seine Rolle“ gefunden. Dennoch, oder gerade deshalb, weil er so Vielfältiges nicht zu platt definieren möchte, fiel das Interview etwas länger aus. Dafür wird vieles, was hier zur Sprache kommt, was da draußen scheinbar weit weg geschieht, umso greifbarer und nahbarer.

Erzähle uns von deiner Arbeit, etwa mit Morphine Records, deinen Produktionen lokaler Musik-Helden wie Pauline Oliveros oder dem indonesischen Duo Senyawa.

Das Label zeigt meine eigene Reflexion darüber, wie ich Musik möchte, dass sie klingt, welche Musik ich kaufen würde oder sammele. Es geht nicht darum, einen Katalog des „schönsten“ oder „coolsten“ Zeugs zu produzieren. Es kommt auch nicht darauf an, wie viele Releases ein Künstler hat. Der Punkt ist der, dass ich meine Perspektive auf Musik teilen und dokumentieren möchte, wie etwa mit der 2015er Serie: Senyawa, Charles Cohen, Pauline Oliveros and Pierre Bastien.

Gabst du diesen Musikern eine besondere Chance gehört zu werden?

Nun, ich hoffe doch. Das ist ein Hauptkontext meiner Arbeit. Ich hätte andere, bekanntere elektronische Musiker veröffentlichen können, wenn es um die Verkäufe ginge. Aber das ist nicht der Punkt. Sie sind alle gleichwertig in ihrer Andersheit, sie sind gleich wichtig auf dem Label und ich denke sie wurden nicht angemessen veröffentlicht für ein junges, elektronisches Publikum. Mit dieser Serie versuchte ich eine Einführung in die Musiker zu geben, die die elektronische Musik, die experimentelle, die Avantgarde und Tape Musik aufs Höchste beeinflusst haben, aber dennoch nicht bekannt sind in unserer Nische.

Es war teilweise schwierig für mich und den Vertrieb, diese Acts zu kommunizieren, anzukündigen, was da kommt. Aber es war eine Freude dann zu sehen, wie das Publikum, Journalisten und gar Promoter diese Musik entdeckten. Es ist eine stetige Entdeckung, etwa auch der Nebenprojekte. Ein Stück von Senyawa wurde von Charles Cohen remixed und ein Track von dem wiederum von Robert Turman. Und keiner dieser Musiker wurde je zuvor remixed oder machte einen Remix. Es entstand eine wirklich verrückte Kombination; ohne, dass sich diese Musiker je getroffen hätten. Da gab es nur Files, die hin und her gingen. Aber es ist verblüffend, wie diese Tracks funktionieren.

Musikhören schöpft doch auch immer aus einem Verständnis der kulturellen Codes – dem Teilsein einer Szene und ihren spezifischen Kontexten usw. Aber können wir denn überhaupt wirklich verstehen, was in einer fremden Kultur gespielt wird?

Es ist eine Kombination von Faktoren. Ich suche nicht nach ihnen, meine Entscheidungen sind keine objektiven. Ich wache nicht morgens auf und frage mich: „Welches Land kommt als nächstes?“ Es geschieht wirklich natürlich. Ich denke, ich handle so, seitdem ich eine Vorstellung davon habe, wie Musik weltweit und über Zeiten hinweg funktioniert.

Und wie?

Traditionelle Musik ist etwas, das wir immer mit einem spezifischen Territorium verbinden, z.B. „die arabische Musik“ oder „die südafrikanische Musik“. Aber nachdem ich 30 Jahre nun Musik höre… Ich fing an, Verbindungen zu suchen und ich war neugierig: „Wie kommt es, dass ein Musiker aus Nordafrika Skalen oder Rhythmen spielt, die denen eines südindischen Straßenmusikers verwandt sind?“ Ich fand, es muss ziemlich einfach sein; ich denke es gibt Wege, auf denen die Musik den Menschen folgt von einem zum nächsten Ort.

Du meinst Einzelpersonen oder Gruppen? Dann übers Radio, TV, Internet?

Ich rede von Zeiten lange davor. Menschen wanderten immer. Es gab dieses nomadische Gen in unserem System. Und du nahmst alles mit dir, auch die Musik. Man könnte nicht einmal eine einsame Insel finden, auf der eine Musik gespielt wird, die noch von niemandem entdeckt wurde. Ich glaube nicht, dass es das noch gibt oder jemals gab. Diese Matrix der konstanten Rekreation bringt mich dazu, das zu tun, was ich in meinem eigenen, kleinen Umfeld tue. Ich versuche das alles am Laufen zu halten.

Aber das hat auch etwas Delikates an sich. Es muss dabei immer ein Level an Respekt für die Musik, egal woher, walten und ein Leben des Verständnisses dafür, wie diese Stile zusammen finden können, wie sie etwas Neues formen können und nicht bloß eine grob vereinfachte Kombination all dessen. Du kannst damit schaden, anstatt nur etwas zu erforschen … Manchmal wirken die Einflüsse wie Appropriation, du machst sie zu Deinem. Aber du brauchst eine Vision davon, was du kreieren möchtest, hast du sie nicht, bist du nur einer von denen, die etwas nehmen, das nicht ihnen gehört. Die Geschichte hat viele solcher Beispiele, Musiker, die aufgenommen wurden und nicht bezahlt, noch nicht einmal genannt.

Sampling kann Kunst sein. Ich habe das Dirigieren während meiner DJ-Karriere gelernt. Wenn du die Matrix eines Musikers verstehst – und es spielt keine Rolle, wo sie oder er herkommt, das ist etwas Persönlicheres – dann werden Musiker A und B zu Instrumenten. Im kreativen Prozess allerdings werden sie Teil von etwas Neuem.

Wie etwa einem schönen Noise, wie dein Stück "For the Right Red Hand" am Samstag hören ließ?

Genau, und Noise ist ein wichtiger Begriff in diesem Fall. Es ist wie Sampling, wenn du acht Musiker auf der Bühne zusammenbringst und du sagst ihnen, was sie wann tun sollen. Jeder für sich weiß, was er oder sie da tut, sie machen das seit Jahrzehnten vielleicht und sind Meister darin. Aber sie haben sich wahrscheinlich niemals in dieser Kombination gehört und das ist die Entdeckung. Zwei Gitarristen – sie kennen sich seit Jahren – und du bringst sie mit einem indonesische Sänger zusammen, den sie nie zuvor gehört hatten. Aber du kennst den richtigen Moment und wie es geschehen soll – die Höhen und Tiefen, die Dramaturgie des Stückes, die rhythmischen Teile – das ist Dirigieren.

Wie werden diese Weltmusik-Fusionen „zu Hause“ aufgefasst, in ihren traditionellen Szenen?

Das ist natürlich eine sehr individuelle Angelegenheit. Aber diese Lücken entstehen überall, auch hier. Generell scheint es eine Separation zwischen Künstlern und ihrem nahen Umfeld zu geben, etwa zur Familie.

Es ist eine sehr persönliche Geschichte, aber ich erzähle sie dir hier, weil sie auch schön ist. Erst vor einem Monat war ich in Sulawesi in Indonesien, in Rullys Heimatstadt, der Sänger von Senyawa. Er ist noch nie dort aufgetreten. Ich wurde Zeuge dieses ersten Auftritts. Es gibt eine natürliche Skepsis gegenüber deinen Verwandten wegen diesem emotionalem Filter über allem, was du tust. Rullys Familie verstand nicht im Geringsten, was er da tat, bis zu dieser Performance. Weißt du, seine Musik ist nicht so klar, sie ist nicht einfach traditionell. Er verbindet eine Millionen von Sachen. Er kann einen traditionellen Sulawesi Stil mit dem Gesangsstil von Sepultura oder Led Zeppelin verbinden. Es war einzigartig. Das Publikum war überwältigt. Er erreichte dort eine Stufe der Anerkennung und aus zwei Gründen: zum einen seiner Kunst und zum anderen die Zertifizierung, dass ich dort war und ihn supported habe. Ich war der Typ aus Berlin, der extra gekommen war, „also musste es gut sein.“ „Wenn du da bist, heißt das, es ist was Ernsthaftes.“ Ich sah so viel Hoffnung in den Augen der Leute da; dass jemand von ihnen weltweite Anerkennung erlangte.

Ich konnte mit Rully mitfühlen. Meine Familie versteht auch nicht, was ich mache, außer meine Mutter. Sie ist auch hier beim Festival. Sie hat keinen musikalischen Background, aber Sensibilität. Ich denke, jeder Musiker trägt die Separation mit sich; Menschen, die ihm sonst nahe stehen, verstehen nicht wirklich, was er oder sie in der Kunst macht.

Ist es nicht vielleicht bloß ein anderes Verständnis von Kunst?

Ja, schon. Aber je tiefer, reicher das Level, das du erreichst, desto weniger Leute werden es verstehen. Du kannst dein Umfeld nicht darauf vorbereiten. Die Familie wird immer sagen, „was du machst, ist großartig“, aber verstehen tun sie es nicht wirklich, nicht so, wie es andere Musiker verstehen können. Wenn du verstanden werden willst, ist es einfacher, noch eine Familie der anderen Art zu finden. Sagen wir mal, ein Noise Musiker aus Belgrad … und sein Umfeld befasst sich nicht mit Noise. Es ist einfacher für ihn, sich mit irgendwem von irgendwo zu verbinden, der aber seinen Stil teilt, jemand aus einem kleinen oder großen Ort, egal woher, aus Europa, Indonesien, Amerika…

Und noch einmal zurück zu deiner vorigen Frage über die musikalischen Szenen, zu Hause und den Input und Output… Ich denke, selbst für einen 80-jährigen Wüstenbewohner wäre es aufregend, einen elektronischen Remix seiner traditionellen Musik zu hören. Vielleicht will er Geld dafür, vielleicht nur genannt werden oder Anerkennung für sein Genre oder die Tradition… Aber abgesehen davon leben wir doch alle in einer Zeit der technologischen Faszination. Und die existiert überall auf der Welt. Ich denke, es ist eine gute Zeit.

Auf der anderen Seite, welche Probleme ergeben sich – kulturell, politisch, sozial? Wie sieht es damit aus, diese diversen Künstler in die Locations zu bekommen, in Länder hinein oder aus Ländern heraus?

Genauso wie Venues bestimmte Künstler nicht buchen, nicht jeden hereinlassen, nicht einmal unbedingt in Zusammenhang mit Hautfarbe oder Geschlecht; genauso gibt es Leute in den Botschaften, die Visa ablehnen. Generell lief fast alles ziemlich gut für die CTM. In zwei Fällen nur haben wir es nicht geschafft; einer ist ein Musiker aus Südafrika, aber darüber weiß ich nicht so viel.

Der andere ist ein syrischer Musiker, der abgelehnt wurde. Er spielt eigentlich in Abdel Karum Shaars Band, die heute Abend hier auftritt. Wir haben alles versucht und auch das Goethe Institut. Aber es ist im Moment unmöglich für einen Syrer, einen Termin in der Deutschen Botschaft zu bekommen. Wir waren alle sehr traurig darüber. Aber es ist ein Problem größeren Kontextes. Es geht auch nicht um die Deutsche Botschaft allein und möchte hier keine falschen Motivationen implizieren. Die Situation als Ganze ist sehr delikat.

Trotzdem, wir hatten Glück, wir hatten nicht viele solcher Fälle. Ich denke, würde man in den USA ein vergleichbares Festival veranstalten, es könnten wohl nur fünf Prozent der Künstler teilnehmen.

Sieben Kontinente – nenne uns doch sieben Künstler oder Gruppen, die hier spielen, die du gerne erwähnen möchtest.

– Vincent Moons Installation “Rituals”

– Pedro Reyes’s Installation "Disarm (Mechanized)" – Instrumente, die aus Waffen gebaut sind, die aus Mexikanischen Drogenkartellen konfisziert wurden.

– Abdel Karim Shaar und seine Band

– Yerusalem in my Heart – ein im Libanon geborener, heute Kanadischer Produzent, der mit analogen Synthesizern arbeitet, dazu Charles-André Coderres 16mm-Film-Projektionen

– Pauline Oliveros

– Senyawa

– Sharif Sehnaoui – er spielt eine präparierte Gitarre, dazu zwei Schwerttänzer aus dem Mittleren Osten

Die CTM for Adventurous Music and Art in Berlin findet vom 29. Januar bis 07. Februar in diversen Locations in Berlin statt. i>www.ctm-festival.de

Rabih Beaini trat als DJ auch als Morphosis auf und betreibt das Label Morphine Records. i>www.morphinerecords.com

Bild(er) © 1: Rabih Beaini - by Rabih Beaini, 2: Rabih Beaini - by Octopus Agents/CTM, 3: Rully Shabara, CTM 2016 - by CTM/Camille Blake, 4: Sam Shalabi, Tommaso Cappellato, Rabih Beaini, CTM 2016 - by CTM/Camille Blake
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