Visuell eindrücklich. Politisch pointiert.

Bei der Biennale werden mit Kunst globale Verbindungen gezogen, oft atemberaubend und eindrücklich. Nur manchmal würde man sich kleinere Dimensionen, dafür mehr neue Ecken und Kanten wünschen.

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Im zentralen Arsenale wird ein riesiger Vorhang zur Seite geschoben. Die Besucher und Besucherinnen nehmen Platz auf runden Sitzkissen. In der Arena werden in den kommenden sechs Monaten die gesamten drei Bände "Das Kapital" von Karl Marx vorgelesen. "Reading Capital" ist ein Zwischentitel, den Kurator Okwui Enwezor als Parameter und theoretische Strukturierung seiner Biennale setzt.

Auch "Garden of Disorder" und "Liveness: On Epic Duration" dienen ihm als metaphorische Verbindungslinien zwischen dem Historischen und gegenwärtigen globalen Realitäten. Enwezor zeigt die Stimmen der Welten, die Perspektiven auf die Welten und verfolgt die Ausformungen und Gestaltungen, welche Dinge und Realitäten zu unterschiedlichen Zeiten angenommen haben und tut dies mancherorts auf gelungene Art und Weise mit einem breiten theoretischen Unterbau und mancherorts leider doch nur mit genau der Kunst, die das vertritt, was die Ausstellung andernorts kritisch formuliert.

Formbare Welten

Diese Biennale spürt der Formwerdung und der Produktion von (Waren-)Welten nach: die Natur, der Klang, die Erzählung, die Schrift, das Handwerk und der Markt scheinen in diesem "Parlament der Formen" besondere Rollen zu erhalten. Genauso wie man den gesamten Text von Marx inhaltlich nicht ganz verfolgen kann, sondern ihn nur fragmentarisch und umso intensiver in seiner symbolischen Präsenz wahrnimmt, verbinden sich auch die einzelnen Teile der Ausstellung weniger zu einem deutlichen und abgeschlossenen Text als vielmehr zu einem Moment des progressiven Fortschreitens, oft lebendiger und sinnlicher Antrieb zugleich.

Joachim Schönfeld aus Südafrika untersucht Produktionsbedingungen in den Townships von Johannesburg. Carsten Höllers Projektion "Fara Fara" dokumentiert die Musikszene in Kinshasa, der Hauptstadt der demokratischen Republik Kongo. Die junge Künstlerin Lili Reynaud-Dewar zeigt eine Installation aus knalligen Stoffbahnen, die wie liebenswürdige Protestfahnen auf politische Umstände eines unsicheren Subjekts aufmerksam machen: "We are one anonymous moving body. We are many. We are like one porous specie." Nur wenige Meter weiter fordert die US-amerikanische Konzeptkünstlerin Adrian Piper Besucher und Besucherinnen auf ein Regelwerk mit zu gestalten: "I always do what I say I am going to do."

Porträt der Menschheit

Die riesige Dreifachprojektion "Vertico Sea" von John Akomfrah aus Ghana ist ein visuell überwältigendes und gewaltiges Porträt der Menschheit vom Meer aus gesehen. Die vielen – wohl den meisten unbekannten – Positionen aus dem lateinamerikanischen und afrikanischen Raum ergänzt Enwezor mit vielen Altmeistern. In manchen Fällen erzeugt das inhaltichen Tiefgang, etwa im Falle von Christian Boltanskis Videoarbeit "Animitas", Teilen aus Chris Marker’s und Harun Farocki’s Oeuvre und Arbeiten der Konzeptkünstlerin Adrian Piper und der Amerikanerin Joan Jonas in Anderen allerdings einen unnötigen Hang zu den großen Dimensionen, etwas bei Katja Grosse und Thomas Hirschhorn.

Die Gruppenausstellung "All The World’s Futures", mit 136 Künstler und ungefähr 700 Werken in der Gruppenausstellung wird begleitet von 89 Länderpavillons, einem offiziellen Rahmenprogramm und vielen inoffizielle Ausstellungen und Programmpunkte in ganz Venedig. Bei dieser Menge an Werken und Stimmen muss jeder seinen eigenen Weg durch den Giardini, das Arsenale und die Außenstellen formen.

Our Product – Der Schweizer Pavillon

Neotone, Silikon, Evian, Viagra, Bonin und Necrion gehören zu den Stoffen, aus welchen Pamela Rosenkranz‘ Arbeit besteht. Gemeinsam mit dem Parfümier Fréderic Malle entwickelte Rosenkranz eine Flüssigkeit, die farblich dem standarisierten mitteleuropäischen Hautton entspricht. Die Produktbeschreibung, ein Text, der von dem britischen Philosophen Robin Mackay stammt, kann man in Helvetica im Begleitheft nachlesen. Nachdrücklich gelingt Rosenkranz die Verbindung einer klassischen wahrnehmungstheoretischen Disposition, deren Hauptelemente der Raum, das Licht, die Geräusche und der Geruch sind mit deutlichen und komplexen Aussagen über kulturell bedingte Determinationen: Our Product.

Raumdichte – Der österreichische Pavillon

"Man könnte den ganzen Sommer hier verbringen – und hätte wohl immer noch nicht alles gesehen", schreibt ein Feuilletonist. Im Österreichischen Pavillon bekommt man dieses Jahr das Gefühl dieser Flut für einen Moment zu entkommen. Eine gravitätische Ruhe kehrt dort ein. Als Besucher oder Besucherin bewegt man sich auf schwarzem Boden. An der Decke des Pavillons schwebt ein schwarzer Monolith als quasi zweite eingezogene Decke. Das duale Muster der Architektur Oben / Unten, Offen / Geschlossen, Weiß / Schwarz, Innen / Außen, Dichte / Leere greift Heimo Zoberning auf und fügt es zu einem beinahe schwerelosen Raum, einem erstaunlich leichten Ganzen zusammen.

Speculating On The Blue – Der kosovarische Pavillon

Die junge Künstlerin Flaka Haiti zeigt im Kosovarischen Pavillon – der vom Direktor der Kunsthalle Wien Nikolaus Schafhausen kuratiert wurde – eine Installation, welche sich mit Grenzen und Zonen beschäftigt. Was passiert, wenn es wenige oder keine solcher "Anhaltspunkte" und Linien gibt? Blauer Sand flutet den Boden des White Cubes. Aus diesem heraus ragen drei metallene Elemente. Die Oberfläche des Sandes kräuselt sich wie ein Meer in der Ruhe nach dem Sturm. Ergriffen möchte man sich rückwärts aus dem blauen Sandmeer im kosovarischen Pavillon befreien.

Die Bildermacher – Der deutsche Pavillon

Fabrik steht auf der Fassade, denn hier werden Dinge produziert: Carsten Nicolai lässt Boomergangs anfertigen und in die Welt hinausschleudern, wo sie zirkulieren. Genauso wie die Fotografien von Tobias Zielony. Er fotografierte Flüchtlinge und Aktivisten in Berlin und bat afrikanische Autoren und Journalisten die Fotografien zu reflektieren. In Zeitungen in deren Heimatort Sudan wurden die Bilder wieder abgedruckt, wo sie aus dem Kunstzyklus ausbrechen und als Protestbilder Realitäten mitgestalten. Im Untergeschoß nimmt man Platz in einem virtuellen Kubus, dem Motion Picture Studio. Doch "This is not a Game. This is Reality" klärt uns die Künstlerin Hito Steyerl in ihrer Produktion auf. Ein "chatchy" Video, das heutige Bildwelt, etwa aus Musikvideos, aus der Unterhaltungsbranche, aus populären Konsolenspielen wie Just Dance oder den Nachrichtendiensten aufgreift. Außerdem zu finden zwei Arbeiten von Jasmina Metwaly / Philip Rizk.

To be all ways to be – Der niederländischer Pavillon

Herman de Vries beschäftigt sich seit über sechzig Jahren mit den Schnittstellen zwischen Naturwissenschaften, der Kunst und Philosophie. Er beobachtet natürliche Phänomene und erschließt sich diese durch seine präzise Beobachtung. Diese primären und ursprünglichen Elemente der Menschheit sammelt, sortiert, ordnet, isoliert er und stellt sie aus. Für den niederländischen Pavillon sammelte er natürliche Gegenstände aus einem Biotop seiner Heimatstadt und welche, die er in der Lagunenstadt gefunden hat und sortiert diese zu einem Wandjournal. "To be all ways to be" ist eine Begegnung mit den elementaren Ursprüngen und Sinnen und reagiert auf ein hier und ein Vor-Ort-Sein.

Außerdem empfehlenswert: Armenitiy**. Der armenische Pavillon beschäftigt sich mit der Diaspora Armeniens. Secret Power, einer der besten diesjährigen Länderbeiträge von Simon Denny für Neuseeland. Personnes et les Autres, Vincent Meesen und Freunde beschäftigten sich im belgischen Pavillon aus regional unterschiedlichen Perspektiven mit dem Status des Post-Kolonialen. Oder auch einfach mal im Burger King neben dem Bahnhof zu The Internet Saga schauen (Hey! There you can just grab yourself a burger!!) und danach den antarktischen Pavillon als einzigen kontinentalen Pavillon in der Stadt besuchen und über den Anspruch auf Land nachdenken. Außerdem befindet sich, wenn es dann dunkel wird, ganz in der Nähe die Disco mit der wohl coolsten Lichtanlage der Welt, Picolo Mondo.

Am 9. Mai hat die 56. Biennale von Venedig "All The World’s Futures" begonnen. Bis zum 22. November kann man dort unterschiedlichste Kunst betrachten.

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