Fehlende Väter und eine ambivalente Beziehung

Caracas, eine Liebe, der neue Film von Lorenzo Vigas zeigt die ambivalente Beziehung zweier Männer. Wir trafen den Regisseur aus Venezuela beim Filmfest München zum Gespräch über seine beiden Hauptfiguren, seine Heimat Venezuela und kommende Projekte.

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Erst letztes Jahr hat er für seinen aktuellen Film Caracas, eine Liebe den Goldenen Löwen bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig gewonnen. Das ist die höchste Auszeichnung in dem Wettbewerb. Dabei ist Caracas, eine Liebe sein erster Spielfilm. Davor hat Vigas Dokumentationen gedreht, mitunter auch eine über seinen Vater, den Maler Oswaldo Vigas.

Caracas, eine Liebe wurde sehr gut bewertet, obwohl oder gerade weil die Geschichte über die beiden Charaktere Armando und Elder sich schwer charakterisieren lässt. Sowohl das Genre des Films als auch die Beziehung der beiden sind ambivalent. Und es ist gerade diese Ambiguität, die den Film besonders und interessant macht. Vigas präsentiert uns die Beziehung zweier Männer, die sich immer wieder ändert. Als ZuseherIn weiß man nie so recht: Haben sie eine Vater-Sohn-Beziehung? Sind sie Liebhaber? Es wird nie so ganz klar, wer wen gerade ausnützt. Auch das Ende wird dieser Geschichte gerecht – wenn es auch manche empören wird.

Wir haben mit Lorenzo Vigas über sein Interesse an Vater-Sohn-Beziehungen, die Suche nach seinen beiden Hauptdarstellern, den Bezug zu seiner Heimat Venezuela und was es braucht, um Filme zu machen, gesprochen.

Viele deiner Filme handeln von Vater-Sohn-Beziehungen. Warum interessiert dich dieses Thema?

Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich habe diese Besessenheit, diese Triologie, an der ich gerade arbeite, zu machen. Es gibt keinen Grund dafür. Aber es stimmt, dass in Lateinamerika Väter fast nie zu Hause sind, weil die Männer verschiedene Frauen haben. Es ist eine sehr machohafte Kultur. Väter sind meistens nicht daheim. Das ist vielleicht der Grund, warum ich einen Bezug mit dem Archetypen dieses Gedankens habe.

Es scheint, dass das Suchen in dem Film eine große Rolle spielt. Es gibt viele Szenen, in denen wir Armandos Hinterkopf sehen, wir sehen, wie er seinen Vater oder Elder sucht. Wonach sucht Armando? Wonach sucht Elder? Liebe? Sex? Rache? Oder etwas anderes?

Ich denke, Armando sucht verzweifelt nach Zuneigung. Die Frage ist nur: Kann er Zuneigung erfahren? Ich denke, er sucht nach Liebe, aber er kann mit Liebe nicht umgehen. Er ist nicht dafür vorbereitet, zu lieben. Manchmal suchen wir etwas, sind dafür aber nicht vorbereitet. Elder sucht nach nichts Bestimmtem. Er verliebt sich zum ersten Mal in seinem Leben.

Der Film baut auf den beiden Hauptdarstellern auf. Wie schwer war der Castingprozess? Besonders in der Hinsicht, dass zwischen den beiden ein großer Altersunterschied besteht und sie eine sehr spezielle Beziehung im Laufe der Geschichte entwickeln.

Ich hatte das Glück, Elder sehr schnell zu finden. Ich habe ein Bild des Darstellers gesehen, er hatte zuvor noch nie einen Film gedreht. Ich habe ihn getroffen und ich wusste gleich, dass es funktionieren würde. Es gab kein Casting. Wir haben gemeinsam Filme gesehen. Wir sind essen gegangen. Wir haben uns angefreundet. Ich wusste, dass er mir vertrauen musste, um die Szenen in dem Film machen zu können. Armando wollte ich in Venezuela finden. Es gab ein viermonatiges Casting, aber ich habe ihn dort nicht gefunden, also habe ich mich gefragt: Wer ist der beste spanischsprachige Darsteller? Für mich ist das aktuell Alfredo Castro. Ich habe ihm das Drehbuch geschickt und er hat es geliebt.

Armando und Elder gehen eine ungewöhnliche Beziehung ein. Man kann nie sagen, wer wem ausnützt. Wie würdest du die Beziehung der beiden beschreiben? Sind sie Liebhaber? Freunde? Sieht Elder Armando als eine Vaterfigur?

Es ist ein Film, den man nicht in eine Schublade stecken kann. Manche sagen, es ist ein schwuler Film, aber das ist er nicht. Manche sagen, dass der Film ein Drama ist, aber er ist auch ein Thriller. Die Beziehung der beiden kann auch nicht benannt werden. Die beiden haben die Sehnsucht nach den gleichen emotionalen Bedürfnissen. Niemand hat sich davor um Elder gekümmert. Am Anfang ist eine Vater-Sohn-Beziehung, aber ihre Beziehung ändert sich immer wieder.

Kann man sagen, dass der Film auch Klassen-Problematiken anspricht? Wir sehen, dass Armando aus der Mittelschicht stammt und soweit Geld hat. Wir sehen auch viele Szenen, in denen Geld gezeigt wird, etwa in den Szenen, wo Armando den Buben Geld gibt. Auf der anderen Seite sehen wir Elder auf der Straße mit seinen Freunden und wir können uns denken, dass er keinen wohlhabenden Background hat.

Der Film zeigt die aktuelle Realität in Venezuela. Armando ist nicht reich, aber er hat einen Job und daher Geld. Viele junge Menschen wie Elder können nicht arbeiten. Es gibt eine sehr hohe Inflation. Selbst wenn du arbeiten gehst, kannst du dir keine neuen Schuhe leisten – also musst du rauben. Das Land gibt dir keine Möglichkeiten.

Wie wichtig ist es dir, dass die ZuseherInnen sich in die Figuren einfühlen können?

Es ist wichtig, aber am Ende dieses Films weist man die Hauptfigur zurück. Zuerst beginnt man, ihn zu mögen. Man versteht, dass er Probleme hat und mit den Konsequenzen einer schrecklichen Vergangenheit leben muss. Für mich gab es aber kein anderes Ende. Es stimmt, dass ich deswegen manche Leute verstoße, weil es die Figur weniger sympathisch macht. Aber es wichtiger, ehrlich mit deiner Geschichte zu sein. Ich bevorzuge es, ehrlich mit meinen Geschichten und mit mir selbst zu sein als Kompromisse für das Publikum einzugehen.

Ich fand es interessant, dass es keine Musik und nicht viele Dialoge in dem Film gab. Warum hast du dich dafür entschlossen?

Es gibt kaum einen Dialog, weil Armando nicht reden kann, er ist ein emotionaler Autist. Ich denke, dass Musik in Filmen meist genutzt wird, weil man keine Emotionen mit seinen Darstellern, seinem Plot und seiner Mise en Scène erzeugen kann. Das mag ich nicht und daher wollte ich Musik vermeiden.

Der Film wurde in Venedig mit dem Goldenen Löwen prämiert. Was bedeuten dir Awards und gute Reviews und ändern sie deine Art, Filme zu machen?

Der Film wird auf der ganzen Welt gezeigt, das ist großartig. Ich habe eine Menge Aufträge von Hollywood erhalten, aber ich bin derzeit nicht interessiert. Ich arbeite gerade an dem 3. Teil der Triologie, das ist wichtiger für mich.

Du hattest Unterstützung von der lateinamerikanischen Filmindustrie. Du hast das Drehbuch gemeinsam mit Guillermo Arriaga („Amores Perros, „21 Grams”) geschrieben und Michel Franco, Edgar Ramirez und Gabriel Ripstein sind Executive Producers. Was sind deine Wünsche für die lateinamerikanische Filmindustrie?

Ich wünschte, es gäbe mehr Vernetzung. Es gibt fantastische FilmemacherInnen. Wir müssen besser vernetzt sein und unsere Filme gegenseitig unterstützen. Es ist fast unmöglich, einen mexikanischen Film in Venezuela zu sehen. Oder einen aus Argentinia. Sie zeigen die Filme zwar in Europa, aber wir in Lateinamerika sehen sie nicht. Dennoch ist der lateinamerikanische Film gerade sehr am Leben.

Du hast auch einen Abschluss in Molekularbiologie absolviert, bevor du Film an der NYU Film studiert und abgeschlossen hast. Hast du irgendwelche Tipps für zukünftige FilmemacherInnen?

Es ist nicht notwendig, Regie zu studieren. Um Filme zu machen, ist es wichtiger, zu leben und Erfahrungen zu sammeln. Man sollte in Museen gehen und viel Kunst sehen. Bilder, Architektur und Musik sind auch wichtig. Du brauchst Leidenschaft fürs Leben, um Filme zu machen. Du wirst es lernen, wenn du an Projekten arbeitest. Man muss dafür nicht studieren. Zudem ist es wichtiger, seinen eigenen Weg zu finden und zu gestalten. Man muss nicht das machen, was andere zuvor gemacht haben.

Du hast zuerst Dokumentationen gedreht. Beeinflusst dies nun deine Art, Filme zu machen?

Ja, ich versuche einen sehr realistischen Zugang zu haben, aber es geht natürlich auch um Fiktion. Es ist eine Kombination. Manche Teile des Films könnten so auch in einer Dokumentation vorkommen, aber vom Stil her ist es Fiktion. Aber ja, ich habe eine Menge von den Dokumentationen, die ich gemacht habe, gelernt. Das war sehr wichtig für mich.

Dein Kurzfilm Elephants Never Forget, dieser Film und auch dein nächster The Box sind eine Triologie. Du hast auch eine Dokumentation über deinen Vater gedreht. Welche anderen Themen willst du bei deinen zukünftigen Projekten behandeln?

Ich arbeite gerade am 3. Teil der Triologie, in der es auch über Väter und Söhne gehen wird. Dann bereite ich auch einen Film für die USA vor. Ich interessiere mich für das menschliche Befinden. Jedes komplexe, menschliche Problem interessiert mich.

Caracas, eine Liebe läuft ab 01.07. in den österreichischen Kinos.

Bild(er) © Alexandra Bas
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