Das Reale in der Fantasie

Animation hat den Dokumentarfilm von der Bürde befreit, eine vermeintlich objektive Abbildung der Wirklichkeit sein zu müssen. Eine aktuelle Auswahl der fantasievollen, eigenwilligen und subjektiven Blicke der »AniDocs« wird Ende April beim Crossing Europe Filmfestival in Linz zu sehen sein.

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»Waltz With Bashir« gilt nach wie vor als jener Film, der dem Genre des animierten Dokumentarfilms in voller Kinolänge 2008 die Initialzündung gegeben hat. Dabei hatte Regisseur Ari Folman ursprünglich gar nichts anderes getan, als aus seiner Not eine Tugend zu machen. Er setzte der Amnesie, die er als israelischer Soldat während der Massaker im Libanon erlitten hat, die gezeichnete Fantasie entgegen, unterstützt von realen Audio-Interviews mit ehemaligen Kameraden. Daraus entwickelte sich inzwischen eine gängige Genre-Definition des AniDoc – real erzählte Fakten auf der Tonspur werden mit dem subjektiven Blick des Autors auf der visuellen Ebene verbunden. Dabei geht dieses Konzept bis mindestens in die 80er Jahre zurück. Paul Fierlinger machte etwa aus Radio-Interviews zu persönlichen Themen wie Drogenmissbrauch oder Einsamkeit animierte Kurzfilme, um dem individuellen Erleben ein allgemein verständliches Gesicht zu geben. Übrigens hat Paul Fierlinger nur knapp den Titel »Erster Animationsfilm in Kinolänge« verpasst. Für seine Autobiografie »Drawn From Memory« (1995), die von seiner Kindheit als Sohn eines tschechoslowakischen Diplomaten in Japan während des Zweiten Weltkriegs erzählt, hat es nur zur einstündigen TV-Produktion gereicht.

Crulic, der unscheinbare Held

Zwei Filme, die beide das politische Leben im Iran thematisieren – »Persepolis« (2008) und »The Green Wave« (2010) – waren ebenfalls beachtenswerte Kinoerfolge. Aktuell ist es die rumänisch-polnische Koproduktion »Crulic«, die internationale Preise abräumt und die auch beim Crossing Europe Filmfestival zu sehen sein wird. Hier geht es um das Leben des 33-jährigen Claudiu Crulic, der als unscheinbarer rumänischer Gastarbeiter in Polen tätig war und von dessen erschütterndem Schicksal ohne den Film von Anca Damian wohl nie jemand erfahren hätte. Denn der Fall sollte nie publik gemacht werden. Ereignet hat sich das Ganze im Jahr 2008, als einem der obersten Richter Polens die Geldtasche gestohlen und 500 Euro von seiner Kreditkarte abgehoben wurden. Claudiu Crulic wird als Verdächtiger festgenommen, verhört und inhaftiert. Dass er sich zum Zeitpunkt der Tat gar nicht in Polen, sondern auf Urlaub in Italien aufgehalten hat, und dies auch belegen kann, findet vor Gericht keine Beachtung. Der unschuldig inhaftierte Mann tritt daraufhin in einen Hungerstreik, an dem er vier qualvolle Monate später stirbt.

»Ich habe mich für Animation entschieden, weil ich so die Geschichte auf die bestmögliche Art erzählen konnte«, erklärt die Regisseurin Anca Damian. »Ein Reenactment mit einem Schauspieler und das bloße Auflisten der Fakten wären nie so glaubhaft gewesen.« Damian arbeitet mit einem Mix aus unterschiedlichen Techniken. Sie kombiniert Zeichnungen von Hand aus zerfließenden Wasserfarben mit Collagen von realen Photos sowie Stop-Motion-Sequenzen mit echten Gegenständen aus Crulics Leben. Der private Besitz, die letzten verbleibenden Erinnerungen an eine Existenz, erzählen hier ihre Geschichte. Die Menschen, die Crulic im Verlauf seines viermonatigen Kampfs um Recht und Gehör brutal im Stich gelassen haben, bleiben schemenhaft.


»Ein Hungerstreik erfordert viel Courage und Selbstdisziplin. Dein Körper stirbt, lange bevor du selbst stirbst. Und dabei kannst du über deinen eigenen Tod nachdenken«, erklärt die Regisseurin ihre Beweggründe, diesen Film zu machen. »Und ich wollte herausfinden, wie Menschen im 21. Jahrhundert aktiv dabei zusehen können, wie jemand diesen langsamen Tod auf sich nimmt, ohne etwas zu tun, um es zu verhindern.« Gerade wegen der Gewichtigkeit der Geschehnisse rund um diesen Justizskandal hat sich die Regisseurin für eine Leichtigkeit in der Erzählform entschieden. Sie lässt die Hauptfigur selbst aus dem Off – im wahrsten Sinne des Wortes – nämlich aus dem Jenseits, mit viel Humor und Distanz den Verlauf der Geschichte schildern. Basierend auf Gerichtsakten und persönlichen Gesprächen mit Familie und Freunden Crulics hat die Regisseurin so ein interessantes Spannungsfeld zwischen dokumentarischer Beweissammlung und eigenwilliger visueller Interpretationen geschaffen.

Zeichnen gegen das Unbeschreibliche

Dasselbe Spannungsfeld zeigt sich auch bei den zahlreichen Kurzfilmen, die in einer abwechslungsreich kuratierten AniDoc-Schau beim Crossing Europe Filmfestival zu sehen sein werden. »Leonid’s Story« etwa versucht, jene surrealen Emotionen festzuhalten, die selbst 25 Jahre nach der realen Katastrophe von Tschernobyl den Alltag der ehemaligen Anrainer prägen. Mit Hilfe von Zeichnungen, Fotocollagen und Realfilm wird versucht, das Unbeschreibliche in Bilder zu fassen. In eigenen Worten und mit dem eigenen Zeichenstift beschreibt der Schweizer Cartoonist Patrick Chappatte in »Death In The Field« die Eindrücke seiner Libanon-Reise im Jahr 2009, zweieinhalb Jahre nach dem Krieg mit Israel. In einfachen, schwarz-weißen Bildern erzählt er von Bauern, die ihre Felder nicht mehr bestellen können und von Kindern, die beim Spielen im Wald umkommen, weil das Land von nicht detonierter Streumunition verseucht ist. In kurzen Porträts hält Chappatte die Gesichter und Geschichten von Menschen fest, die vielleicht morgen schon nicht mehr am Leben sein werden.

Filme für Erwachsene

Auch private Geschichten von Verlust und Erinnerung sind es, die im AniDoc-Genre ihre Ausdrucksformen finden. Zeichenstift oder Computergrafik bringen die lückenhaften Bilder im Kopf auf die Leinwand. Mit zaghaften, schwarzen Linien auf weißem Untergrund, denen es nur schemenhaft gelingt, zu Straßenzügen und Menschen zu werden, erzählt Marie-Margaux Tsakiri-Scanatovits in »My Mother’s Coat« vom Leben ihrer Mutter im post-diktatorischen Athen. Eine Suche nach eigener Identität in einem fremden Land mit einer unverständlichen Mentalität. Ähnlich verwaschen sind die Erinnerungen in »1989 – Als ich 5 Jahre alt war« von Thor Ochsner. Die letzte Autofahrt mit seinem Vater, die in dessen Unfalltod endet, ist für den Filmemacher nach wie vor ein schwarzes Loch, in das er kaum einzudringen vermag.

Wie hauchdünn die Grenze zwischen Dokumentarischem und Fiktion ist, zeigt ein weiterer Langfilm im Rahmen des Crossing Europe Festival. Der spanische Beitrag »Arrugas« (»Falten«) war im letzten Jahr für den Oscar nominiert und erzählt in klassischer 2D-Animation vom Leben der Bewohner eines Altersheims. Der Film basiert auf dem gleichnamigen und ebenfalls preisgekrönten Comic von Paco Roca, der aus realen Erlebnissen und Erfahrungen heraus diese fiktiven Episoden rund um eine Gruppe mehr oder weniger betagter Männer und Frauen erzählt. »Arrugas« kommt auf den ersten Blick wie ein Trickfilm aus dem Kinderfernsehen daher, und wird trotzdem oder gerade deshalb ausdrücklich als »Film für ein erwachsenes Publikum« beworben. Die Schwierigkeiten und Nöte von Menschen mit Alzheimer werden durch die anekdotische Erzählweise zwar auf unterhaltsame Weise präsentiert, jedoch verliert der Film die Schwere des Themas nie aus den Augen. Am eindringlichsten ist das, wenn sich die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Tagtraum bei den Figuren aufzulösen beginnen. In Augenblicken, in denen die Alzheimer-Patienten in ihren Fantasiewelten verloren bleiben, wird der Zuschauer umso härter in die Realität zurück geworfen.

Authentizität musste er also nicht einbüßen, der Dokumentarfilm mit dem subjektiven Weltbild. Viel mehr hat der AniDoc den Horizont erweitert, wenn es darum geht, wie weit man sich von der Realität entfernen darf, um unverfälscht von ihr berichten zu können.

»It’s animated!« lautet das Motto von 24. bis 29. April beim Crossing Europe Filmfestival in Linz. Neben AniDocs werden auch zahlreiche Animationsfilme aus der Sparte Fiktion zu sehen sein. Mehr unter www.crossingeurope.at

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