Angezogen und nackig gut

„Blau ist eine warme Farbe“ ist die eindrucksvollste Kino-Liebesgeschichte des Jahres. Und das, obwohl das französische Drama eigentlich nichts Neues zu erzählen hat, wie Mark Heywinkel im Dialog feststellt.

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Der zweite "Hobbit"-Teil ist nicht der einzige Fast-Drei-Stunden-Brecher, den wir uns aktuell im Kino ansehen können: Der französische Film "Blau ist eine warme Farbe" kommt auf eine ebenso mächtige Spielzeit. Wenn man dieses Jahr aber nur noch Bock und Energie für einen Überlänge-Film hat, welchen sollte man sich dann vorknöpfen?

Das ist ja mal eine unmöglich zu beantwortende Frage! Wie soll man bitteschön zwischen einem Bombast-Fantasy-Epos und einem auf Authentizität gedrillten Drama einen ernstzunehmenden Vergleich anstellen? Bis auf ihre Überlänge haben die beiden Filme null gemeinsam. Was sich jedoch sagen lässt: "Blau ist eine warme Farbe" ist auf jeden Fall die anstrengendere Kinokost.

Was kann anstrengender sein als dabei zuzusehen, wie ein Kinderbuch von 300 Seiten auf drei ewig lange Filme gestreckt wird?

Na, ist doch klar: Ein richtig schmerzhaftes Thema kann anstrengender sein.

Und das wäre?

Die Liebe natürlich. Zuerst zeigt uns der französische Regisseur Abdellatif Kechiche, wie schön sie sein kann: Er lässt sich die 17-jährige Schülerin Adèle in die ältere Kunststudentin Emma verlieben. Es kommt zum ersten Treffen und Kuss auf die Wange im Park. Dann bald schon zur ersten gemeinsamen Nacht, zum Kennenlernen der Eltern und Freunde. Schließlich, die beiden sind nun älter, ziehen sie in eine Wohnung. Adèle ist Emmas Muse. Alles läuft gut. Doch dann, peu à peu, – und Achtung: Spoiler! – entfernt sich dieses wunderschöne Liebespaar voneinander: Adèle, die eine Ausbildung zur Grundschullehrerin macht, kann mit den intellektuellen Gesprächsthemen von Emmas Kunstfreunden nichts anfangen und geht schließlich mit einem Kollegen fremd. Emma findet’s raus. Es kommt zum Streit. Es wird geschrien, beleidigt, geschlagen, geweint – das sind verdammt anstrengende Szenen, weil sie dich an deine eigenen Leidensphasen erinnern.

Hm. Die Story macht jetzt aber nicht gerade den Eindruck, besonders innovativ und interessant zu sein. Am Scheitern der Liebe haben sich auch schon Dutzende anderer Filme abgearbeitet. Warum soll mich das bei "Blau ist eine warme Farbe" jetzt noch mal scheren?

Klar, "Blau ist eine warme Farbe" erzählt kaum Neues. Dass es Partner aus unterschiedlichen Schichten und Lebenswelten schwer haben können, hat ja schon "Romeo und Julia" gezeigt. Und auch dass ein lesbisches Paar im Zentrum steht, ist jetzt nichts, was einen aus den Socken haut. Soll es aber auch gar nicht: Abdellatif Kechiche will mit dem Drama kein Statement zur Homosexualität abgeben, er will einfach nur die Höhen und Tiefen der Liebe abbilden. Und dass einen das nach so vielen Liebesfilmen auch hier wieder kriegt, liegt an den beiden Hauptdarstellerinnen Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux. Ihr sehr glaubhaftes Spiel ist es, für das man unbedingt ins Kino gehen sollte.

"Glaubhaftes Spiel", ja? Du fährst doch bloß auf die angeblich sehr ausgiebigen Sexszenen ab und versuchst das jetzt verschwurbelt zu überspielen.

Nö, gar nicht. Ja, es gibt viel Sex zu sehen. Und ja, der Sex ist eine Trilliarde Mal ästhetischer und schärfer in Szene gesetzt als in jedem Lesben-Video, das du auf Redtube finden wirst. Aber Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux sind nicht nur zusammen im Bett gut. Ihr Mienenspiel ist immer spannend anzusehen. Wenn sie einander schüchterne Blicke zuwerfen, wenn sie sich gegenseitig abchecken, wenn sie sich ihren Eltern vorstellen, wenn sie sich später streiten und noch ein bisschen später nach langer Zeit zum ersten Mal wiedersehen – das ist alles supergut gespielt. Und dass die Kamera dabei immer ganz dicht an ihren Gesichtern dran ist, verstärkt das intensive Spiel noch mehr. Wirklich, dieser Film ist ganz, ganz toll, weil seine Darstellerinnen ganz, ganz toll sind. Angezogen wie – zugegeben – auch nackig. Die Goldene Palme hat "Blau ist eine warme Farbe" definitiv verdient.

Wahnsinn.

Was?

Das ist die erste euphorische Kritik, die ich von dir gehört habe.

Dann muss an meiner Lobhudelei wohl was dran sein.

"Blau ist eine warme Farbe" (Originaltitel: La Vie d’Adèle) läuft derzeit in österreichischen Kinos.

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