Anything goes

Grenzen zwischen den Disziplinen zu überschreiten, ist ein Lieblingssport der Kreativen. Auch Grafikdesigner tun es, wie nicht nur eine Ausstellung im Quartier 21 zeigt.

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Früher war alles einfacher. Man ging zur Vernissage eines Künstlers in eine Galerie, nahm Platz auf Sesseln, die von einem Designer entworfen worden waren, genoss das Essen vom Caterer und kaufte sich den Katalog, den ein Grafiker gestaltet hatte. Heute könnte die Sache so aussehen: Ein Produktdesigner lädt zu einer Koch-Performance in einen Concept Store, in dem sogenannte Künstlerentwürfe als Sitzmöbel herumstehen, eine befreundete Designerin beschallt das Publikum und ihr Mann hat als Kleinverleger nicht nur das Booklet zum Event drucken lassen, sondern es auch gleich selbst in eine grafische Form gebracht.

Anything goes: Das war einst ein berühmter, oft missverstandener Schlachtruf des Philosophen Paul Feyerabend, der den Methodenzwang in der Wissenschaft aushebeln wollte und weniger Logik und Objektivität, dafür mehr Kreativität forderte. Diesem »Anything goes« haben sich mittlerweile viele in der Kreativbranche selbst mit Haut und Haar verschrieben, aus den unterschiedlichsten Gründen. Art Design, Limited Editions und experimentelle Entwürfe von bildenden Künstlern oder von Produktdesignern sind seit den späten 90er Jahren im Trend, Modelabels kümmern sich um Möbel, Architekten interessieren sich für Food Design, Köche entwerfen Tafelgeschirr oder schreiben kulinarische Krimis.

InDesign goes

Auch Grafikdesign ist längst »entgrenzt« – was sich unter anderem der Tatsache verdankt, dass die technischen Tools, die Grafikdesigner verwenden, allen offenstehen. Wer keine ästhetische Wildsau ist und InDesign beherrscht, kann heute passable Folder entwerfen oder Bücher professionell aussehen lassen – oder sogar verdammt gut. Auf den Einbruch in ihre ureigene Domäne reagieren Grafikdesigner mit der Eroberung anderer Disziplinen, wie der Niederländer Erik Kessels erläutert, der die Ausstellung »Graphic Detour – Crossing Borders in European Design« kuratiert hat, die derzeit im Quartier 21 zu sehen ist. Kessels selbst hat als Gründer und Kreativdirektor der Werbeagentur Kessels Kramer immer wieder furios gezeigt, wie man aus den klassischen Kategorien von Werbung, Grafik, Design oder Kunst lässig ausbrechen kann.

»Es gibt zwei Gründe für den Wandel: technische Innovationen und neue Colleges. Für Studenten an Kunsthochschulen oder anderen kreativen Hochschulen sind Grenzüberschreitungen längst etwas Natürliches geworden. Sie beginnen bereits im frühen Alter, die Disziplinen zu mixen. Einst brauchte man einen Spezialisten für bestimmte Techniken, heute ist das alles viel zugänglicher. Junge Designer haben keine Angst zu switchen, wohingegen ältere oft zu sehr in Ehrfurcht erstarren vor Technik oder handwerklichem Können.« Und andererseits komme dazu, dass das Publikum gegenüber dem Kombinieren von Grafik, Design, Mode, Musik, Multimedia etc. nicht nur offen sei, sondern es geradezu einfordere.

Für Kessels ist diese Entwicklung höchst positiv, denn: »Heute geht es nicht mehr ums technische Können, sondern um echte Kreativität. Und die hat nicht jeder.« Grafikdesign ist davon mehr als andere Felder betroffen, denn »es gibt Millionen von Grafikdesignern. Amateure und Professionals.« Die Schattenseiten davon leugnet Kessels gar nicht: »Es gibt unglaublich viel gut aussehendes Grafikdesign, das gar nichts zu kommunizieren hat und auch niemanden berührt. Leere Schönheit.« Daher brauche es eine außergewöhnliche Idee, um aus der Masse herauszuragen, und die Inspiration dazu komme meist von außerhalb, eben aus anderen Disziplinen. Es sei ein Irrglaube, so Kessels, dass Grafikdesigner bei Ausflügen in andere Bereiche neue Fertigkeiten erlernen müssten. »Sie müssen nicht ihre Skills verbessern, sondern ihre Ideen.«


Hybridity goes

Dass »Interkreativität« (wie das MAK-Chef Christoph Thun-Hohenstein genannt hat) mittlerweile längst das Biotop der Galerien und Museen verlassen hat, beweist seit Jahren der Markt selbst. Kessels: »Wer erfolgreich sein will, muss eine starke Idee haben, die Leute auf den unterschiedlichsten Ebenen erreicht. Die Kunden, für die ich arbeite, verstehen, dass ihre Kunden selbst interdisziplinäre Wesen sind. Vor kurzem haben wir eine Modekollektion für Absolut Vodka, eine Skulptur für eine Schule und eine Wasserflasche für eine Biermarke entworfen. Wer hätte vor Jahren gedacht, dass so etwas möglich ist?« Wie spannend Grenzgänge sein können, soll die Ausstellung »Graphic Detour« vor Augen führen. Dazu wurden acht Grafikdesigner und Künstler mit Betrieben aus der niederländischen Provinz Brabant (die sich als Kulturhauptstadt 2018 bewirbt) zusammengespannt, was zu hybriden Ergebnissen geführt hat, etwa zu Totemfiguren, inspiriert von Süßigkeiten, oder zu einer Installation, in der Keramikerzeugnisse von Alltagsgegenständen schwer zu unterscheiden sind. »Es war für die Beteiligten ein Blind Date«, so Kessels. »Da kamen Leute zusammen, die sich unter normalen Umständen nie getroffen hätten. Die Ergebnisse sind extrem überraschend.«

Auch wenn es sich nicht zwangsläufig um markttaugliche Ideen handeln muss, solche Projekte verweisen darauf, dass im internationalen Geschäft eine außergewöhnliche, konsequent durchgezogene Idee die konventionellen Methoden – und seien sie bis ins Detail hinein ausgefeilt – schnell alt aussehen lassen. Ein Beispiel dafür lieferte kürzlich etwa die kroatische Kreativagentur Bruketa & Žinić, die schon oft ins internationale Rampenlicht gelangt sind – und das unter anderem mit einer Materie, die normalerweise kaum jemanden hinter dem Ofen hervorlockt: Geschäftsberichte. Nur was für welche! Für den Mischkonzern Adris entwickelte man das Buch »In Good Hands«, das sich beim Durchblättern grün verfärbt – temperaturempfindliche Farbe reagiert auf die Berührung durch den Leser. Ebenfalls thermoaktives Papier verwendete man bereits ein paar Jahre vorher für den Lebensmittelproduzenten Podravka, dessen Geschäftsbericht man erst eine halbe Stunde im Rohr »backen« muss, ehe auf den zunächst leeren Seiten etwas zu lesen ist…

Freischwinger goes

Das sind die Glücksfälle. Es kann aber auch knapp daneben gehen, selbst bei den ganz Großen. Nehmen wir Österreichs bekannten Grafik-Export, den in New York tätigen Stefan Sagmeister, der ja gerade für seine Innovationsfreude weltberühmt geworden ist. Vor geraumer Zeit meinte er, einen Sessel entwerfen zu müssen, der einem Freischwinger nachempfunden ist und von zweihundert Papierbögen bedeckt ist, die unterschiedliche Muster haben. Ist eines abgenutzt oder hat man sich sattgesehen, so reißt man einfach das Blatt ab und hat einen komplett neuen Stuhl zu Hause. Vorgestellt wurde der skurrile »Darwin Chair« bei der Design Miami/ Basel, bei den meisten hat er jedoch nur Kopfschütteln hervorgerufen. Schulmeister, bleib bei deinen Leisten? So streng muss man darauf vielleicht nicht reagieren. Vielleicht ist ja die Idee beim nächsten Ausflug in die Möbelbranche ein bisschen stärker. Oder zumindest die Ausführung. Bei allem anything goes ist das noch immer entscheidend.

»Graphic Detour – Crossing Borders in European Design« ist bis 25. November im Quartier 21 zu sehen.

www.quartier21.at

www.kesselkramer.com

www.bruketa-zinic.com

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