„Wir sind eine Orchideenschule!”

Mit dem Autor und FM4-Journalisten Fritz Ostermayer übernimmt Anfang Juni ein leidenschaftlicher „Universaldilletant“ die Leitung der Wiener Schule für Dichtung. Ein E-Mail-Interview über die Poesie von Four Letter Words, den Darwinismus der Castingshows und bildungsferne Finanzminister.

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Anfang Juni übernimmst du als Nachfolger des verstorbenen Christian Ide Hintze die Leitung der Wiener Schule für Dichtung. Hast du dich dafür aktiv beworben oder wurdest du gefragt?

Zu meiner großen Überraschung wurde ich gefragt. Aktiv beworben habe ich mich in meinem ganzen Leben tatsächlich nur ein einziges Mal: als Ferialpraktikant bei der Post. Solch kampfloses Reinrutschen in diverse "Berufe" muss jungen Jobsuchenden von heute geradezu obszön anmuten.


Gleich zum Start wird erst einmal 20 Jahre Schule für Dichtung gefeiert. Was verbindet dich denn mit diesem Jubiläum?

Die Selbsterkenntnis, dass ich vor 20 Jahren dümmer war als heute, weil ich damals der Idee einer Schule für Dichtung äußerst reserviert gegenüber gestanden bin.


Hat deine neue Aufgabe irgendwelche Auswirkungen auf deine FM4-Aktivitäten, etwa die Radiosendung "Im Sumpf"?

Nein, der "Sumpf" als ein von Thomas Edlinger und mir gezeugtes "Kind der Liebe" wird durch mein "Fremdgehen" keinen Schaden nehmen. Die Schule aber kann von meinen Kontakten und Freundschaften zu vielen Künstlerinnen und Künstlern, die ich dem "Sumpf" verdanke, nur profitieren.


Dein Vorgänger Christian Ide Hintze war unter anderem Fan der ausdrucksstarken Mimik und "Gesichtspoesie" des italienischen Fussballschiedsrichters Pierluigi Collina und vertrat einen sehr breiten Begriff dessen, was Dichtung ausmacht. Wie sieht deiner aus?

Hätte Ide Hintze nicht diesen erweiterten Poesiebegriff gehabt, wäre der Vorstand der Schule wahrscheinlich gar nicht auf mich gekommen. Denn wenn ich überhaupt für etwas stehe, dann doch für die Hybridisierung künstlerischer Disziplinen hin zu einem herrschaftsfreien Mix der Genres. Die Filmkunst eines Martin Arnold z.B. besitzt für mich eine derart überwältigende Poesie, dass es eine Schande wäre, diesen Meister nicht sofort zu beknien, doch eine Klasse für Sampling, Morphing, Time-Stretching etc. zu übernehmen, lauter A/V-Techniken, mit denen man ja auch dem gedruckten Wort zu Leibe rücken kann. Da kann ich mir wunderbare Bastarde mit der an der Schule eh gern praktizierten "poésie sonore" vorstellen. Im Übrigen halte ich es gern mit H.C. Artmann, der bereits 1953 in seiner "Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes" behauptete, "dass man Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben".


Was kann eine "Schule für Dichtung" lehren?

Sicher nicht "creative writing", dafür gibt es andere Institutionen. Die sfd sollte eine angstfreie und hierarchielose Werkstatt künstlerischer Kommunikation sein, in der den Lehrenden die Rolle von Katalysatoren und Inspiratoren zukommt. Leidenschaft selbst ist zwar nicht lehrbar, aber im besten Fall doch ansteckend. Ein Klima der Euphorie erzeugen, in der sich Lehrer und Schüler im gemeinsamen Diskurs reiben, dass die Funken sprühen: das wäre ein ebenso geiler wie vornehmer Lernprozess für alle Beteiligten.


Staatstragend gefragt: Welche Aufgabe hat eine "Schule für Dichtung"?

Staatstragend geantwortet: der allumfassende Vernutzung der Welt ein kleines gallisches Dorf entgegenzusetzen, das sich dem kapitalistisch grausamen Diktat des Utilarismus mit einem Beharren auf Herzensbildung und einer unkorrumpierten Suche nach neuer Schönheit widersetzt. Blöd gesagt: wenn ein bildungsferner ehemaliger Finanzminister für ihn "nutzlose" Studienrichtungen als "Orchideenfächer" abqualifiziert, dann wollen wir diese Beleidigung gern als Auszeichnung tragen: wir sind eine herrliche "Orchideenschule"!


Christian Ide Hintze hat sich in den letzten Jahren u.a. dafür eingesetzt, Falco als Dichter zu etablieren und seine Songtexte als Buch herausgegeben. Wen würde denn Fritz Ostermayer gerne literarisch erhöhen?

Jamie Stewart von Xiu Xiu, die Aural-History-Jazzfeministin Matana Roberts und die fantastische Pop-Epikerin Julia Holter. Alle drei werde ich um eine Lehrtätigkeit anbetteln.


In den Lectures der Schule für Dichtung gab es etwa – legendär – den "Love Song"-Workshop mit Nick Cave, an dem damals unter anderem Christian Fuch (Fetish 69, Bunny Lake) oder Ernst Molden teilnahmen. Wird es unter Fritz Ostermayer Vergleichbares geben?

Ja – das heute notwendige Korrektiv zu Caves "Love Song"-Workshop. Ich hätte gern, dass der lebenslängliche Berserker Mark Stewart (Pop Group, Maffia etc.) einen "Hate Song"-Kurs bestreitet. Ich sage bewusst "bestreitet", weil ruhig auch gestritten werden soll.



Deine Vorlieben fürs Morbide und Abseitige sind regelmäßigen Hörern der Sendung "Im Sumpf" bekannt. Wie werden sich die denn in den Aktivitäten der Schule für Dichtung wiederfinden?

Meinen melancholisch morbiden Rucksack gebe ich gern an der Schulgarderobe ab, aber wenn das "Abseitige" auch hochinteressante literarische Nischen meint, dann nur rein damit: z.B. die Tradition der pataphysischen Schreibe oder die grandiose "Werkstatt für potentielle Literatur", also die französische Oulipo-Gruppe um Konzeptliteraten wie Georges Perec, Harry Mathews oder Raymond Queneau, deren Ansatz einer "Spracherweiterung durch formale Zwänge" noch lange nicht ausgereizt ist.


Zumindest das Geschriebene verliert im Zeitalter der Bilder, von Youtube und Youporn stark an Deutungs- und Diskurshoheit. Wie kann eine "Schule für Dichtung" mit dieser Entwicklung umgehen?

Indem wir das Wort auch als Bild nehmen. Und umgekehrt Bilder lingualisieren. Ich könnte mir z.B. gut eine Ausstellung mit aufgeladenen four-letter-words vorstellen, bei der es zu spannenden audiovisuellen Synergien rund um das Wörtchen FUCK kommt. Oder, wenn’s beliebt: DICK, COCK, CUNT, SLUT, BUTT, FART, CRAP, DARN, DUNK, HECK usw.

Die Wiener Kreativwirtschaftsagentur Departure hat zuletzt gemeinsam mit dem Literaturhaus und dem Festival Sound:frame das Format "Sehbuch" auf DVD erprobt und Texte von Handke, Jelinek, Rilke oder Ann Cotten von Visualisten interpretieren lassen. Überzeugt dich das Format?

Alles, was die Buchdeckeln sprengt, bietet neue Chancen poetischer Expansion. Andererseits kann man einen kleinen Kunstbuchverlag wie "Harpune" gar nicht genug preisen für seine liebevolle Arbeit rund um Buch und Druck. Beides ist notwendig und wertvoll.

Fast zeitgleich mit deiner Ernennung wurde auch die Eröffnung einer Pop-Akademie in Wien angekündigt. Wäre deren Leitung für dich auch in Frage gekommen?

Nein. Da scheint es doch eher um die Zurichtung für eine "Karriere" in der Unterhaltungsindustrie zu gehen. Quasi um eine bescheidene Akademisierung des Castingshow-Darwinismus. Aber vielleicht bin ich auch nur voreingenommen im Wissen um ähnliche Akademien im Ausland. Oder im Herzen zu viel idealistisch verblödeter Punk um jungen Spießern beim Erobern der Mitte zuschauen zu wollen.

Du wurdest aber nicht gefragt, oder?

Nein. Ha – das wäre für alle ein Schuss ins eigene Knie gewesen.

Werden sich die Aktivitäten der Schule für Dichtung und der Pop Akadamie in irgendeiner Form in die Quere kommen?

Auch das kann ich mir aus den soeben genannten Gründen nicht vorstellen. Ohne Arroganz: das sind halt zwei ganz verschiedene Baustellen. Aber warten wir’s doch einmal ab, wäre ja schön, wenn ich mich irrte.

Zum Abschluss, aus dem Bauch heraus: Drei, vier große Poeten oder Poetinnen der Gegenwart?

Ursula Timea Rossel, Roman Signer, Cosima von Bonin, Erwin Einzinger, Wes Anderson, Erika Lust, Leyland Kirby alias The Caretaker, EMA, Max Müller, Shabazz Palaces, Ghedalia Tazartes, Wolves In The Throne Room

Am Samstag, den 2. Juni wird im Kasino am Schwarzenbergplatz „20 Jahre Schule für Dichtung“ gefeiert – in memoriam Christian Ide Hintze. Beginn: 20 Uhr

Im Anschluß: Party in der Kasinobar

Es lesen und performen Marlene Streeruwitz, Gerhard Rühm, Brigitta Furgler, Dorothee Hartinger, Jürgen Maurer, Moritz Vierboom – u.a. Texte der sfd-Lehrer H.C. Artmann, Blixa Bargeld, Wolfgang Bauer, Nick Cave, Allen Ginsberg, Gert Jonke, Friederike Mayröcker, Peter Rosei, Raoul Schrott und Julian Schutting.

Es moderiert Fritz Ostermayer.

2. Juni 2012, 20.00 Uhr

Kasino am Schwarzenbergplatz (Burgtheater)
am Schwarzenbergplatz 1, Wien 1

Karten: www.burgtheater.at

Bild(er) © Magdalena Blaszczuk
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