Vom Pfosten bis zur Ritze

Das Herz von St. Pauli, das ist meine Heimat, in Hamburg da bin ich zu Haus…

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„Pah bitte, St. Pauli“, tönt ein deutscher Arbeitskollege abfällig. Das habe zwar einen gewissen Kultstatus und ein alternatives Image, aber am Wochenende gäben sich dort die Teilnehmer von Junggesellen-Abschiedspartys und Krawall-, Sex- und Sauftouristen die Klinke in die Hand beziehungsweise die Faust ins Gesicht. Von alter Rotlicht- und Hafenromantik sei durch Bandenwesen und Stadtteilgentrifizierung kaum mehr was zu spüren. „Unsinn“, widerspricht eine ebenfalls aus Deutschland stammende Kollegin. St. Pauli sei nach wie vor und zurecht ein alternatives und buntes Viertel. „Bitte, wo ist denn St. Pauli?“, fragt die junge, aus tiefster österreichischer Provinz stammende Praktikantin. Tja …

St. Pauli ist heute ein Viertel inmitten von Hamburg. Im 17. Jahrhundert siedelten dort Gewerbebetriebe, die in Hamburg selbst wegen Lärm, Gestank oder Verschmutzung unerwünscht waren. Auch die Reepschläger, die namensgebend für die spätere Reeperbahn waren, fanden sich dort. Dazu gesellten sich im Laufe der Zeit Amüsier- Etablissements, erste Industrie und Schiffswerften. Ende des 18. Jahrhunderts folgten Gaukler und Künstler, später auch Theater- und Zirkusbetriebe.

Prostituierte und Künstler

St. Pauli, früher außerhalb der Stadtmauern, diente zudem denjenigen, die das Bürgergeld für Hamburg nicht aufbringen konnten, als Wohnort. Dazu kamen Handwerker, Gastwirte, Prostituierte, Künstler … St. Pauli galt und gilt als „armes“ Viertel, als „aufrührerisch und widerständig“. Hier streikten unter anderem Ende des 19. Jahrhunderts die Hafenarbeiter, hier kam es 1919 im Fahrwasser der Münchner Räterepublik zu revolutionärer Betätigung und später immer wieder zu Kämpfen zwischen Roten und Braunen. In den 1980ern gab es zahlreiche Hausbesetzungen, 2002 eine starke Bewegung gegen die Räumung des Wagenplatzes „Bambule“und den Innensenator Schill. Seit ein paar Jahren wird das Viertel eifrig gentrifiziert, die Mieten gehen nach oben. Was der Politik nicht gelang, nämlich im Viertel dauerhaft Ruhe zu schaffen, erledigt sich jetzt möglicherweise von selbst.

Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus und nie wieder 2. Liga

St. Pauli ist heute vor allem für seinen Fußballklub samt dazugehörigem Stadion und die Reeperbahn bekannt. Beides befindet sich in unmittelbarer Nähe zueinander. Touristen kennen auch den berühmten Hamburger Schauspieler Hans Albers, dem in St. Pauli ein Platz gewidmet ist. Die Beatles haben hier 1960 monatelang in diversen Clubs gespielt. Zur Erinnerung daran ist auch ihnen ein Platz in St. Pauli gewidmet. Man kennt auch die sogenannten Landungsbrücken, ursprünglich als Anlageplatz der großen Überseedampfer Tor zur Welt, heute nur noch für den lokalen Schiffsverkehr in Gebrauch. Und vielleicht auch noch den Fischmarkt, der außer Fisch von Lebensmitteln über Trödel jeder Art ziemlich viel bietet.

Auf wenige „Sehenswürdigkeiten“ St. Paulis konzentriert sich der im Edel Verlag erschienene Bild- und Textband „St. Pauli. Vom Pfosten bis zur Ritze“. Hier geht es um Fußball, Musik und traditionelle Kneipen im Viertel. Der erste Teil des Buches widmet sich dem Fußball und bringt Anekdötchen rund ums Stadion, Blicke hinter die Kulissen und Interviews mit Szene-Größen. Vorgestellt werden diverse mit dem Stadion und dem Klub verwobene Vereine, Organisationen und Personen. Da gibt es zum Beispiel den „Alten Stamm“, eine Truppe von ehemaligen Spielern, Funktionären und ehrenamtlichen Mitarbeitern, die zum Teil seit den 1930ern beim Klub aktiv sind.

Vorgestellt wird der New Yorker St. Pauli Fanklub „East River Pirates“, der nicht von Exil-Deutschen ins Leben gerufen wurde, sondern von New Yorker Anhängern des Vereins. Die sehen sich die Spiele in einer Bar abends via Web an, also zu einem Zeitpunkt, zu dem das Ergebnis längst feststeht. Eine Story beschreibt die Bewegung der „Sozialromantiker“, die sich vorwiegend gegen die Kommerzialisierung des Fußballs und gegen den Verlust alter Vereinswerte einsetzt. So tritt der Verein auch zum Beispiel gegen Sexismus im Stadion ein. Überhaupt wird bei der Beschreibung der Organisationen großer Wert auf die Betonung des sozialen Engagements der meisten dieser Vereine gelegt. Sehr schön ist die Story, wie der Verein zu seinem Totenkopf kam.

Großformatig, kleinformatig

Zum Teil doppelseitige Fotos in Farbe und Schwarzweiß aus dem Stadion und kleinformatige Fotos von Details, Personen, Cover-Abbildungen von Fanzines, Illustrationen und so weiter begleiten den fußballaffinen ersten Teil des Buches.

Der Bildband wendet sich dann weg vom Fußball Richtung Kunst und berichtet über die stadioneigene Kunstgalerie, zeigt beleuchtungstechnisch schön in Szene gesetzte Tattoos, die sich mit St. Paul beschäftigen, Street-Art (vom künstlerisch wertvollen Graffiti bis hin zur Kritzelei an der Wand), Stadteil-Fotos, die damals und heute gegenüberstellen, historische Fotos mit Alltagsszenen aus dem Viertel und nicht zu vergessen nackte Haut und Prostituierte. Zeitzeugenberichte aus den 60ern (Beatles in St. Pauli!) und den späten 80ern (Punks in St. Pauli!) ergänzen die Bildteile.

Ein eigener Abschnitt widmet sich mit Bild und Text den alten, legendären Kneipen des Viertels. Der „Silbersack“, dessen über 80jährige Besitzerin unlängst verstorben ist, oder „Zum goldenen Handschuh“ existieren dort schon rund 60 Jahre. Auf den Bildern wirken die Kneipen nicht unbedingt vertrauenerweckend…

Bonusmaterial

Wichtig zur richtigen Einordnung des Gesehenen ist die ausführliche Timeline mit den wichtigsten Fakten rund um Klub und Viertel. Beigelegt sind auch zwei CDs: Die eine beinhaltet einen Livemitschnitt der norwegischen Brachial-Metalpunkrocker Turbonegro. Warum Turbonegro? Weil Teile der CD 1998 auf einem Konzert in Hamburg aufgenommen wurden. Und die Hamburger Sektion der Turbojugend als Urzelle aller Turbojugend-Gruppen gilt. Und in St. Pauli ein mal jährlich die Welt-Turbojugend-Tage stattfinden. Eine zweite CD und der letzte Teil des Buches beschäftigen sich mit Bands mit St. Pauli-Bezug. Fast alle singen ein Loblied auf den Klub und das Viertel. Mit ein paar Ausnahmen dominiert hier der Punk-Rock.

Wer das Viertel und den Verein St. Pauli mag, wird seine Freude mit dem Buch haben. Die Stories über Fußball sind auch für Laien und Nicht-Interessierte aufgrund ihrer kurzweiligen Machart sehr unterhaltsam und informativ. Der Fan wird ohnehin seine Freude haben. Der beigelegte Live-Mitschnitt Turbonegros ist solide, krachig und laut. Die Bildstrecken sind bunt und poppig, gut gemacht und ausgewählt und machen Lust auf mehr.

Die Kehrseite: Stellenweise ist das alles ein wenig gar zu pathetisch, zu sehr eitel Wonne und an eine mitunter penetrante Tourismus-Werbung erinnernd – denn St. Pauli wird hier ohne Einschränkung in den Himmel gelobt. Es ist aber kaum vorstellbar, dass St. Pauli ausschließlich das Anarcho-Wunderland ist, als das es hier geschildert wird und dass alles Schlechte, wie im Buch behauptet, von außen kommt. Es wird in und rund um St. Pauli genug „interne“ Reibereien geben und man kann sich zum Beispiel vorstellen, dass etwa Prostitution nicht nur als romantische Komponente des Viertels zu betrachten ist. Das hätte hier auch durchaus zur Sprache kommen können. Die CD mit den St. Pauli-Lobeshymnen ist mit wenigen Ausnahmen musikalisch und textlich recht platt. Eine dieser Ausnahmen ist K-Mob, die mit ihrer Neuinterpretation des Klassikers „Das Herz von St. Pauli“ überzeugen.

Letztlich soll das an dieser Stelle aber egal sein. Hier wird gezeigt, wie man St. Pauli auch sehen kann, wie es stellenweise wohl tatsächlich ist und vor allem wie es uns besonders gut gefällt. Und das ist gut gelungen!

"St. Pauli. Vom Pfosten bis zur Ritze" (Edel Verlag) ist bereits erschienen.

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