Rasiermesser zum Schlucken

Mit Nora Gomringer ist eine sprachbesessene Poetin in die betuliche Welt deutschsprachiger Lyrik eingebrochen. Die Performancekünstlerin vereint eine mitreißende Vortragsweise mit intelligenten Wortneuschöpfungen zu einer neuen Dichtform, die Spaß macht.

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Eigentlich sollte es ja so sein, dass erst einmal die Freude überwiegt, wenn einem ein Preis zugesprochen wird. Arbeitet man noch dazu in einem Berufsfeld wie der Schriftstellerei, Abteilung Lyrik, sind derartige Anerkennungen überlebenswichtig. Sie sichern ein ungestörtes Weiterarbeiten, sorgen für mehr Bekanntheit abseits eingeweihter Zirkel und machen sich außerdem gut im Lebenslauf. Nora Gomringer ist in dieser Hinsicht etwas anders. Als die Poetin die Nachricht ereilte, dass sie den Jacob-Grimm-Preis für Deutsche Sprache – mit satten 30.000 Euro einer der höchstdotierten Sprachpreise überhaupt – erhalten wird, griff die 31-Jährige erst einmal zum Telefon, um mit ihrer Mutter zu sprechen. »Du weißt genau, dass nicht ich den Preis kriegen sollte, sondern er. Ich werde ablehnen!«

Er, das ist ihr Vater Eugen Gomringer. Und der 86-jährige Schweizer hat als Gründer der Konkreten Poesie in der deutschen Dichtung ziemliche Spuren hinterlassen. Gomringers Mutter, eine Germanistin, fand aber recht klare Worte für die Tochter. Sätze wie »Bist du verrückt?«, »Du kannst das Geld sehr gut gebrauchen«, oder »Es bleibt ja ohnehin in der Familie« sollen gefallen sein. Das gute Kind ließ sich überzeugen und befindet sie sich nun in Gesellschaft von Rolf Hochhuth, Loriot, Frank Schirrmacher oder Udo Lindenberg. Allesamt auf ihre Weise Sprach-Kapazunder, die unter den Grimm-Preisträgern zu finden sind. Gut so. Gut auch die trocken formulierte Jury-Begründung: »Nora Gomringer hat mit ihrer sprachlichen Leistung als Lyrikerin einer neuen Form des Dichtens in Deutschland – der Slam Poetry – zu neuer Popularität verholfen.«

Wurzeln im Slam

Wer in dieser innerfamiliären Episode jetzt eine schnöde Koketterie zu erkennen glaubt, irrt. Nora Gomringer ist auch in dieser Hinsicht etwas anders. Die nicht ungewöhnliche Übung, mit Understatement nach Komplimenten zu fischen, ist ihre Sache nämlich nicht. Das spürt man. Beim Lesen ihrer Gedichte. Beim Hören ihrer Gedichte. Bei der Performance ihrer Gedichte. Dafür eignet sich obige Geschichte – Jurybegründung inklusive – aber hervorragend für einen Versuch, die Autorin Gomringer ein kleinwenig fassbarer zu machen.

Es ist nämlich so, dass die Doppelstaatsbürgerin mit Schweizer und deutschem Pass, im Moment mit Poetry Slams eher weniger am Hut hat. »Ich bin vor rund fünf Jahren wirklich bewusst aus der Szene weggeschwommen. Das hat auch damit zu tun, dass sich die Inhalte verändert haben und es im Moment für mich einfach keinen Platz mehr in der Slam-Szene gibt«, resümiert sie. Ihr Einfluss auf die deutschsprachige Slamkultur ist dennoch unumstritten. Als Künstlerin, als Veranstalterin eines eigenen Slams in Bamberg und als Szene-Netzwerkerin sorgte Gomringer nämlich dafür, dass dieser aberwitzige Unterhaltungshybrid aus Literatur, Kabarett und Theater, in Deutschland sein Publikum fand und ein Gesicht bekam. Gelernt hat sie die Basics der Performance-Poesie übrigens in den USA, wo sie vier Jahre ihrer Jugend verbrachte.

Nur, irgendwann überholt sich das System Poetry Slam selbst. Man entwickelt sich künstlerisch weiter, wird älter und will letztlich nicht mehr für fünfminütige Auftritte mehrstündige Zugreisen quer durch den deutschen Sprachraum auf sich nehmen. »Ab einem gewissen Alter, ist man nicht mehr bereit, auf jeder Couch zu schlafen«, kommentiert Gomringer diesen Entwicklungsprozess.

Gereist wird trotzdem noch eine Menge. Gomringer, die Wissenschafterin, die Germanistin, Anglistin und Kunsthistorikerin wird immer wieder gerne von diversen Hochschulen als Poetik-Dozentin eingeladen. Und Gomringer die Lyrikerin ist als gern gesehener Lesegast in den Literaturhäusern der – nun ja – Welt sowieso immer auf Achse. Ein Blick in ihren Veranstaltungskalender verdeutlicht das. Nebst allerhand bunten Örtchen in der Schweiz, Deutschland und Österreich gab es heuer unter anderem Auftritte in Paris, Krakau, Chicago, Gent, Sarajewo oder Reykjavik.

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